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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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fortzutreiben, wusste ich also, was es war. Seine Gesundheit hatte sich in keiner Weise verschlechtert, ebenso wenig verspürte er Schmerzen. Er aß weniger und schlief mehr. Die meisten Entscheidungen hinsichtlich des Haushalts übertrug er Guthlaf oder mir. Wenn er auf seinem Thron saß, sprach er manchmal von den Schlachten seiner Jugend oder von dir, doch im Lauf der Zeit verbrachte er die meiste Zeit im Bett.«
    Unglücklich legte Oesc die Stirn in Falten. »Ich hätte für ihn hier sein müssen. Schließlich wusste ich, wie alt er war – ich hätte Artor anflehen sollen, mich ihn besuchen zu lassen.«
    »Das hätte nichts geändert. Es war der Junge, dessen Haut mittlerweile zu klein für dich ist, an den er sich erinnerte. Nicht der Mann, der du heute bist.«
    »Wer immer das sein mag«, murmelte Oesc und füllte seinen Becher nach. Dann richtete er sich auf, offensichtlich in dem Versuch, sich seiner trübsinnigen Laune zu entwinden. »Es ist schwer, sich vorzustellen, wie Hengest, der Eroberer Britanniens, im Bett stirbt wie eine Frau oder ein Leibeigener.«
    Haedwig schüttelte den Kopf. »Das tat er nicht. Eines Tages, an dem in den Hügeln die Schreie neugeborener Lämmer und in den Lüften die Rufe der zurückkehrenden Wasservögel widerhallten, blies ein frischer Wind, und wir haben sämtliche Türen geöffnet, um das Haus zu lüften.« Kurz schloss sie die Augen und rief sich das strahlende Blau des Himmels, das Knistern des Lebens in der Luft ins Gedächtnis. »Der Küchensklave, der Hengest seinen Haferbrei zu bringen pflegte, rief mich herbei. Der König hatte sich aufgesetzt und nach einem Waschbecken verlangt, außerdem nach der gefalteten fränkischen Tunika mit den Goldborten. Das Volk in der Umgebung jubelte, da es dachte, er hätte sich letztlich erholt.«
    »Wohin wollte er?«
    »Er bat mich, ihn zum Gotteshain zu begleiten und den Speer mitzunehmen.«
    Oescs Augen wurden groß; sein Blick wanderte zu dem verhüllten Gegenstand neben der Tür. Haedwig wusste, dass er daran zurückdachte, wie sein anderer Großvater gestorben war. Im selben, gemessenen Tonfall fuhr sie fort zu berichten.
    Sie hatten ein Lamm mitgenommen, dem der greise König die Kehle durchschnitt, worauf er das Blut des Tieres auf die Götterbilder und die Steine spritzte. Sie erinnerte sich, wie eine seltsame Schwere die Luft um sie erfüllte, als wäre etwas erwacht, um sie zu beobachten, während Hengest sich mit dem Rücken an die Esche lehnte und das Hemd aufzog, um die Brust zu entblößen. Die grünen Schatten hatten seiner Haut eine kränkliche Blässe verliehen, als sei er bereits tot.
    Und dann ritzte sie, seinem Befehl getreu, Wodens Zeichen unterhalb der Rippen in seinen Bauch und knotete die Fetzen, mit denen sie die Blutung stillte, an die Äste der Esche. Da ließ ein gewaltiger Windstoß die frischen Blätter des Baumes erzittern.
    »Der Gott war da«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Das Opfer wurde angenommen. Doch Hengest meinte, da der Gott ihm ein so langes Leben gewährt hatte, würde er ihn den Augenblick wählen lassen, wann er ihn zu sich rief. Und so zog er das Hemd wieder zu, und wir kehrten zurück zur Halle.
    Er setzte sich auf seinen Thron und befahl, das Feuer anzufachen, doch er wollte weder essen noch trinken. Einige der Männer meinten, ich solle ihn zwingen, sich hinzulegen, aber die Krieger der Hausgarde standen mir bei. Sie begriffen nur allzu gut.«
    »Wie lange dauerte es, bis er starb?«, fragte Oesc mit tonloser Stimme.
    Haedwig holte tief Luft und erinnerte sich, wie Hengest in seinem blutverschmierten Hemd gleich einem geschnitzten Standbild da hockte und Andulf lauschte, der von Sigfrid und Hagen sang, von Offa dem Angeln und Scyld Sceafing, einem der wenigen Helden, denen hohes Alter beschieden war. Er sang von Ermanarich. Er sang, bis selbst seine geübte Stimme heiser wurde und Hengest ihn schweigen hieß. Das war die sechste Nacht. Drei Tage noch hielt sich der König ohne Essen, ohne Trinken. Mittlerweile hatte er aufgehört zu sprechen, und einzig das Heben und Senken seiner Brust ließ sie wissen, dass er noch lebte.
    »Neun Tage und Nächte saß Hengest dort, und obwohl er sich nicht bewegt hatte, sahen wir, als der zehnte Morgen graute, dass kein Atem mehr über seinen Bart strich. Endlich hatte der Gott ihn zu sich geholt.«
    »Und das ist der Thron, auf den ich mich setzen soll?«, fragte Oesc mit brüchiger Stimme.
    »Du wirst darauf sitzen, und Hengests Geist wird

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