Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
an dein Grab, um bei dir Rat zu suchen. Nimm an diese Speise und den Trank, Großvater, und gestatte mir, wohlbehalten bis zum Morgengrauen bei dir zu sitzen.« Er entkorkte die Metflasche und leerte den Inhalt in den Graben rings um den Hügel, dann brach er den Gerstenkuchen zwischen den Fingern und verteilte ihn.
Schweigend wartete er, und alsbald schien ihm, die Nacht sei ein wenig wärmer geworden. »Woden, Herr der Toten, steh mir nun bei«, flüsterte er. Dann hob er den Saum seines Mantels an und sprang über den Graben auf den Hügel. Er hob die Hand zum Gruß an seine Männer. Sogleich wandten sie sich ab und ließen ihn allein.
Zunächst verspürte Oesc eine Ruhe ohne Stille. Aus den Wäldern jenseits der Felder vernahm er das heisere Bellen eines Fuchses, im Ort antwortete ein Hund. Von Zeit zu Zeit trug der Nachtwind ihm die Geräusche der Feiernden aus der Halle herüber.
Er tätschelte die Erde neben sich. »Ich bin froh, dass du die Feier hören kannst, Großvater, und dass du hier in deinem Grabhügel nicht ganz allein bist.«
Die christlichen Priester würden behaupten, dass Hengest nun in der Hölle schmorte und dass es von Aberglauben zeugte, mit ihm zu reden, als wäre er lebendig im Grab. Doch das hielt sie keineswegs davon ab, an den Gräbern ihrer Heiligen zu beten, die angeblich in aller Glückseligkeit bei ihrem Gott weilten. Haedwig hatte ihn stets gelehrt, ein Mensch sei ein weit vielschichtigeres Wesen, als es die christliche Vorstellung der Zweiheit von Körper und Seele lehrte. Und obschon ein Teil des Wesens, das einst Hengest war, an Wodens Tafel feierte, mochte sich ein anderer Teil durchaus noch an die Asche im Grab klammern, während der Teil seiner Seele, den er von seinen Ahnen geerbt hatte, darauf wartete, in einem künftigen Kind seines Geschlechts wieder geboren zu werden.
Oesc war zugegen gewesen, als man Octhas Kopf begrub, und er nahm an, dass man mit der Bronzeurne, welche die Asche des verbrannten Leichnams von Hengest beherbergte, ähnlich verfahren hatte und sie nunmehr in einer Holzkammer stand, mit seinem Schild, Kurzschwert und Speer, seinem Helm und seinen Armringen, bronzebeschlagenen Kesseln und Schalen mit Speise und Trank sowie allerlei anderen Dingen, die er vielleicht benötigen würde. Oesc versuchte, sich auszumalen, wie es dort drunten im Herzen des Grabhügels beschaffen sein mochte.
»Ich will deine Ruhe nicht stören, Großvater, aber ich brauche deine Weisheit«, sprach Oesc leise. »Verleih mir deinen Geist, lehre mich, was du aus deinen Taten gelernt hast, und schenk mir dein Glück und die Macht, die dich über das Meer getragen haben, um Anspruch auf dieses Land zu erheben, und dies wird mir helfen, es zu halten. Nicht deine Schätze brauche ich von dir, Hengest, sondern dieses Erbe deines Geistes.«
Abermals blies der Wind und zerzauste die Härchen am Fellsaum seines Umhangs. Oesc zog den Mantel enger um sich und richtete sich darauf ein, zu warten, wobei er gleichmäßig ein- und ausatmete, wie Haedwig es ihn gelehrt hatte. Die Zeit schien zu kriechen, doch als der Ruf eines Nachtvogels ihn kurz hochfahren ließ, sah er, dass der Mond bereits ein Viertel seines Weges über den Himmel gewandert war.
Es war in der Stille während der Ebbe, nachdem selbst das Singen aus der Festhalle verstummt war, als Oescs Bewusstsein sich in einer Weise öffnete, wie es ihm noch nie zuvor widerfahren war. Er sah den Mond tief im Westen stehen, aber er sah auch den grauen Schemen, der neben ihm auf dem Grabhügel hockte. Es war Hengest in seinem fränkischen Kittel, an dem die goldbestickten Bordüren im Mondlicht funkelte, doch obwohl der Wind das Gras beugte, regte er kein Haar des wuchernden Bartes.
Seine Lippen bewegten sich nicht, dennoch spürte Oesc, wie sich Wissen auf seinem Geist legte wie Tau auf Gras. Vor seinen Augen erstanden die verkniffenen Gesichter von Männern, die nun seit fünfzig Jahren im Grabe ruhten, er sah die weißen Klippen von Dubrae über den grauen Wogen der See, er hörte das Getöse Tausender Schlachten und wusste um die langen, schleppenden Jahre in Cantuware, während derer Hengest mit dem Land verwuchs. Alles, was aus Hengest einen König machte, war nun sein, sofern er die Macht besaß, es zu verwenden.
»Ich weiß nun, was du getan hast«, sandte er die eigenen Gedanken jener mächtigen Erscheinung zu, »nicht aber, was ich tun muss…«
Die Antwort, die er erhielt, klang belustigt. »Das ist dein Schicksal, nicht
Weitere Kostenlose Bücher