Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
Feindschaft zwischen Finns und Hnaefs Männern ein offener Krieg erwuchs, zwang Hengest den Friesenkönig zunächst, das Gehöft zwischen den beiden Seiten zu teilen, damit sie den Winter überstanden. Und als die Dänen auf Rache beharrten, brach er das Finn gegenüber abgelegte Friedensgelübde, um seinen Herrn zu rächen.
»… Ihm aber bot man:
Einen anderen Raum sollte räumen der König,
Halle samt Hochsitz, dass die Hälfte sie hielten
All dessen, was der Juten Degen besäßen;
und mit Gaben in Fülle wollte Folkwaldas Sohn
an jeglichem Tage die Dänen bedenken
und Hengests Reiter, mit Ringen, wie’s recht war,
und gleichsam gut mit goldenen Bechern
und gehütetem Hort; so hob er den Friesen
im Metsaal den Mut…«
Desgleichen hatte Hengest noch einmal getan, dachte Oesc, als er sich um seines Volkes willen gegen den Vor-Tigernus wandte und die britischen Fürsten angriff. Er schaute zu dem verwaisten Thron empor und grübelte abermals über das Wesen des Mannes nach, der auf ihm gesessen hatte. Was würde ich tun, müsste ich mich einer solchen Entscheidung stellen? fragte er sich. Sollte ich je gezwungen sein, zwischen meinem Volk und Artor zu wählen, was werde ich tun?
Andulf beendete die Geschichte über das Gemetzel an den Friesen, und neuerlich machte das Methorn die Runde. Die Geschichten über Hengests Taten hatten die Trauernden zu Gelübden angeregt, es ihm gleich zu tun. Die meisten richteten sich, wie zu erwarten, gegen ihre britischen Nachbarn.
»Dies ist mein Schwur, in Wodens Namen.« Ceredic hob das Horn. »Die Grenzen der Westsachsen will ich erweitern, bis Dumnonia unser ist, ein Geschlecht von Königen will ich gründen, das hundert Generationen auf dieser Insel herrschen wird, und einen Namen hinterlassen, an den man sich als jenen des Vaters der Könige dieses Eilands erinnert!«
Was wenig Platz für die anderen Dynastien ließ und ein paar hochgezogene Augenbrauen heraufbeschwor, doch andererseits stellte es kaum eine ernst zu nehmende Bedrohung für das augenblickliche Machtgefüge dar. Mit wachsender Sorge wartete Oesc, bis das Horn ihn erreichte. Selbst als er es in die Hand nahm, wusste er noch nicht, was er sagen würde.
Eine lange Weile starrte er auf den leeren Thron, dann wandte er sich wieder zu seinen Gästen um.
»Ich habe in Schlachten gekämpft und Feinde getötet«, sprach er bedächtig, »doch all meine Großtaten liegen noch vor mir. Meine Herrschaft ist zu jung, als dass mein Volk sich meiner rühmen könnte. Als Hengest starb, war ich nicht hier, um seinen Segen zu empfangen. Auf seinem Sitz Platz zu nehmen, ohne je eine Heldentat vollbracht zu haben, wäre vermessen. Ich werde diesen Ort nun, zur schwärzesten Stunde der Nacht, verlassen und mich draußen auf den Grabhügel meines Großvaters setzen. Vermag ich bis zum Morgengrauen unbeschadet an jenem Ort zu verweilen, will ich Anspruch auf seinen Thron erheben.«
Nachdem er geendet hatte, nickten die Männer und klopften zustimmend auf die Tische. Oescs Gelübde kam unerwartet, war jedoch keineswegs unwürdig. Wohl war Hengest seinem Tod reinen Herzens begegnet, wie es einem Krieger geziemte, und hatte somit keinen Grund, die Lebenden zu hassen. Dennoch konnten die Geister mächtiger Toter sich als gefährlich erweisen, vor allem wenn man sie in ihrer Grabesruhe störte.
Zunächst empfand Oesc die Frische der Nachtluft nach der Hitze der Halle als angenehm. Doch als er sich dem Grabhügel näherte, der unweit der Halle innerhalb der südöstlichen Mauer aufgeschüttet worden war, spürte er allmählich die Kälte und war froh, dass er den schweren Mantel mitgenommen hatte. Über den Feldern jenseits der umgestürzten Steine hingen dichte Nebelschwaden, die im Licht des abnehmenden Mondes schimmerten. Ein Hund heulte im Ort hinter ihm; Oesc unterdrückte ein Schaudern und hoffte, dass es die beiden Krieger, die ihn begleiteten, nicht bemerkt hatten. Sein Schatten erstreckte sich im Licht ihrer Fackeln vor ihm, als hastete sein Geist auf den Grabhügel zu.
Der Hügel, den man über der Truhe mit dem Haupt seines Vaters errichtet hatte, war noch genau so, wie er sich daran erinnerte, wenngleich im Laufe der Zeit ein wenig geplättet und von grünem Gras überwachsen. Hengests Grabhügel ragte kahl und schwarz daneben auf; die Farbe des weißen Hengstes, den man in seinen Grabpfosten geschnitzt hatte, schimmerte noch hell.
»Hengest, Sohn des Wihtgils, ich, Oesc, Blut deines Blutes, komme
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