Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel
seid der Seher Britanniens – bringt mir bei, wie man weiß…«
Hilflos breitete er die Arme aus und ließ den Thymian zu Boden fallen. Wie Ninive so dastand, das Gesicht gen Himmel erhoben, schien sie aus Licht gemacht, ihre schmalen Gesichtszüge eins mit dem Antlitz des daimon, der in seiner Seele lebte.
»Wie kann ich dir etwas beibringen? Du bist das Wissen.«
»Wenn Ihr mich betrachtet, was seht Ihr dann? Und was sehe ich, wenn ich Euch betrachte?« Sie bedachte ihn mit einem langen, geheimnisvollen Blick. »Vielleicht könnt Ihr mir zeigen, was Ihr nicht zu sagen vermögt«, bemerkte sie leise. Dann nahm ihre Stimme einen schärferen Tonfall an. »Sprich, o Mann der Weisheit. Im Namen deines daimon beschwöre ich dich. Wie ergeht es dem Hochkönig in Gallien?«
Merlin spürte die erste Woge der Benommenheit und umfasste den Schaft des Speeres mit beiden Händen, trieb die Spitze in die Erde, als wollte er sie darin verwurzeln. Visionen kamen und gingen in Wellen; also schloss er die Augen, fühlte, wie der Eschenschaft in seinen Händen sich in den Stamm eines großen Baumes verwandelte, der mächtig genug war, um als Pfeiler für Welten zu dienen. Von dieser Stärke gestützt, gab Merlin den Versuch auf, sich an sein gewöhnliches Bewusstsein zu klammern und ließ seinen Geist emporsteigen.
In den ersten Augenblicken weitete sich sein Bewusstsein, getragen auf den Schwingen des Windes. Unter ihm rauschten die grauen Wogen des Meeres. Dann wurde seine Sicht schärfer; er sah gerodete Wälder und breite, zu Schlamm getrampelte Felder, wo Armeen hindurchgezogen waren. In der verschwommenen Ferne, in der er seinen Körper zurückgelassen hatte, rief eine Stimme seinen Namen. Er wusste, dass er ihr antwortete, nicht jedoch was.
Da war der Rauch eines niedergebrannten Dorfes; der Lärm einer Schlacht hallte durch die Luft. Immer mehr bündelte sich sein Bewusstsein; er sah das Banner des Pendragon und Männer in zerschundenen römischen Rüstungen, die gegen große, hellhaarige Krieger mit spitzen Helmen fochten, auf deren Schilden vergoldete Adlerfiguren funkelten.
Er sah Artor über dem Leichnam Gwyhirs thronen und mit mächtigen Hieben Franken fällen, bis Gwalchmai sich einen Weg durch das Gewirr kämpfte, um ihm beizustehen. Hörner ertönten, und ein Reitereikeil mit Bediver an der Spitze stürmte auf das Gemetzel zu. Die Franken fielen zurück und rannten zu den Pferden, die sie am Rand des Feldes zurückgelassen hatten. Bediver verfolgte sie. Die langen, römischen Lanzen stachen zu, weiteres Blut ergoss sich auf den Boden.
Plötzlich veränderte sich die Szene. Es war Sonnenuntergang, und innerhalb eines Fackelkreises sah Merlin auf einem Scheiterhaufen den in einen purpurnen Mantel gehüllten Leichnam eines greisen Mannes. Artor ergriff von einem der Soldaten eine Fackel und warf sie zwischen die Scheite, dann trat er zurück. Das flackernde Licht unterstrich die Furchen in seinem Antlitz, als das Feuer das ölgetränkte Holz erfasste und hoch aufloderte.
Männer scharten sich um ihn. Einer hielt einen Mantel gleich jenem, in den der Leichnam gehüllt gewesen war. Artor schüttelte den Kopf, dennoch legten sie ihm das Purpur über die Schultern. Andere strömten mit Schilden an den Armen herbei und knieten nieder. Jubelnd hoben sie den nach wie vor protestierenden König auf den Schilden empor. Merlin sah, wie Münder sich im Einklang öffneten, hörte tief in der Seele den Widerhall des Gebrülls – »Imperator! Imperator!«
In einem Wirbel aus Purpur und Flammenrot kehrte sein Bewusstsein zurück, und er schlug die Augen auf, keuchte im roten Licht des sich dem Ende zuneigenden Tages.
»Der König«, krächzte er und hustete, während er versuchte, Ordnung in den Strudel verblassender Bilder zu bringen. »Was habe ich gesagt?«
»Riothamus ist tot«, antwortete Ninive mit zittriger Stimme, »und man hat Artor zum Kaiser ausgerufen…«
Die Insel Avalon war in den verträumten Frieden des Herbstes gehüllt. Gwendivar saß neben der Quelle des Blutes und beobachtete, wie goldene Blätter langsam über den Teich trieben.
»Er wird nie zurückkehren, Julia«, sagte sie traurig. »Ich spüre es in meinem Herzen. Wenn man Artor zum Kaiser gemacht hat, ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Weshalb sollte er zu mir, nach Britannien zurückkehren?«
»Sofern man der Vision des Hexers Glauben schenken darf«, merkte die andere Frau etwas grimmig an. Die Jahre hatten Julia ein wenig
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