Brixton Hill: Roman (German Edition)
war. Trotzdem hatte er das Praktikum durchziehen wollen. Wem er damit etwas beweisen wollte, wusste Em nicht, und sie hatte ihn auch nicht danach gefragt. Vielleicht sollte sie es jetzt tun, um ihn abzulenken. Und sich selbst ebenfalls.
»Was hast du eigentlich vor?«
Jono sah sie fragend an.
»Ich meine, das Praktikum wirst du wohl abbrechen.«
»Du fragst mich jetzt , was ich vorhabe?«
Sie antwortete nicht und wandte den Blick von ihm ab. Das mit dem Ablenken hatte schon mal nicht funktioniert. Am liebsten würde sie gehen. Gleichzeitig wollte sie nicht allein sein. Aber eben auch nicht unter Menschen. Nicht so jedenfalls.
»Wollen Sie einen Tee?«
Sie sah auf, ein Sanitäter stand vor ihnen. Er fragte schon zum vierten Mal, er konnte sich die vielen Gesichter nicht merken. Diesmal nahm sie ihm den Plastikbecher ab, dankbar, dass er ihre Gedanken unterbrochen hatte, und reichte ihn weiter an Jono. Sie lehnte sich mit der Wange gegen die kühle Marmorsäule und überlegte, ob sie jemanden anrufen sollte. Ihren Bruder. Oder einen Freund. Um mit jemand anderem als Jono zu reden, weil der Junge es am Ende noch schaffen konnte, sie ebenfalls zum Weinen zu bringen. Sie entschied sich dagegen, nahm trotzdem ihr Telefon aus der Manteltasche und ging online, um zu sehen, ob sie in den Nachrichten was über Kimmy brachten. Em hatte vor fünf Minuten schon nachgesehen. Und vor zehn Minuten. Ständig, eigentlich. Offiziell gab es nichts Neues. Sie wechselte zu Twitter, gab probehalber ein paar Suchbegriffe ein und las sich durch, was die anderen, die irgendwo hier mit ihr in diesem Marmorfoyer mit einer Decke über den Schultern dasaßen, getwittert hatten. Von »Giftgas« hatte jemand geschrieben. »Terroranschlag«, behauptete ein anderer. Em wusste es besser. Weil die meisten Meldungen unter dem Suchbegriff #canarywharf erschienen, benutzte sie ihn ebenfalls und schrieb:
kein giftgas, nur rauchpatronen #canarywharf
Sie brachte es nicht über sich, etwas über Kimmy zu schreiben, und sie ärgerte sich darüber, dass Dutzende in einer Art Pseudo-Massentrauer Dinge wie
RIP kimberly rasmussen #canarywharf
mit einem Link auf Kimmys Agentur in die digitale Welt hinauswarfen. Ohne sie überhaupt gekannt zu haben. Wer sie wirklich kannte, würde so etwas nicht machen. Aber jemand hatte gleich nach dem Sprung ihren Namen veröffentlicht. Lange bevor die Rettungskräfte eingetroffen waren, war ein Tweet abgesetzt worden.
Agenturchefin Kimberly Rasmussen:
tödlicher Sprung aus 15. Stock
Die Presse hatte den Namen sofort aufgenommen und alles über Kimmy ausgegraben, was sich auftreiben ließ.
Es gab keine Geheimnisse mehr im 21. Jahrhundert. Jedenfalls nicht, wenn Menschen mit internetfähigen Geräten in der Nähe waren.
Als Em von ihrem Display aufsah, stand eine uniformierte Polizistin vor ihr. Sie hielt einen Block in der Hand, lächelte nicht und sagte: »In welchem Stockwerk waren Sie?«
»Im fünfzehnten.«
»Sehen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?« Dies nicht fürsorglich, eher rhetorisch.
Em nickte und stand vom Boden auf.
»Ihre Personalien haben wir schon aufgenommen?«
Sie nickte wieder und steckte das Telefon weg. Jono erhob sich unsicher. Seine Beine knickten ein. Sie hielt ihm die Hand hin und half ihm auf.
»Wenn Sie sie mir noch einmal geben könnten, damit ich Ihre vorläufige Aussage aufnehmen kann.«
Em nannte ihren Namen, die Adresse, das Geburtsdatum. Sie erklärte ihren Beruf, warum sie mit Kimmy verabredet gewesen war, und dass sie sich um den ohnmächtigen Praktikanten gekümmert hatte, als Kimmy das Fenster eingeschlagen hatte. Dann war Jono an der Reihe, der sich sichtlich unwohl fühlte, der ohnmächtige Praktikant zu sein.
»Was können Sie zum Hergang der … Situation sagen?«
»Sie war allein in ihrem Büro, soweit ich das in dem dichten Rauch erkennen konnte«, antwortete Em. »Ich hab nur schemenhaft gesehen, wie sie auf die Fensterbank geklettert ist. Niemand hat ihr dabei … geholfen.«
»Haben Sie versucht, sie davon abzuhalten?«, fragte die Polizistin. Sie hatte die langen braunen Haare zu einem Zopf geflochten, und ihr Gesicht hätte hübsch sein können, wären ihre Augen nicht so ausdruckslos gewesen.
Em unterdrückte den Impuls, ihr Jonos Tee über den Notizblock zu kippen. »Wir waren zu sehr damit beschäftigt, Wetten abzuschließen, ob sie wirklich springt.«
Jono unterdrückte einen Laut. Die Polizistin hob den Blick, und Em sah, dass
Weitere Kostenlose Bücher