Brixton Hill: Roman (German Edition)
auf und lief aus dem Büro. Kimmy brauchte einen Moment. Etwas hielt sie fest, eine alte Angst, die sich regte. Sie musste sie abschütteln, um Em zu folgen.
»Jemand steckt im Aufzug fest«, sagte Jono, einer ihrer Praktikanten, als sie zu ihnen kam. Ihr Buchhalter hämmerte sinnlos gegen die geschlossenen Aufzugstüren. Dahinter hörte man eine Frau aufgeregt rufen.
»Bestimmt geht es gleich weiter«, sagte Em. »Vorhin ist er auch schon mal kurz stecken geblieben.«
Die Frau aus dem Off rief weiter um Hilfe.
»Im ganzen Gebäude ist der Strom ausgefallen«, sagte Jono. »Das Internet streikt auch.«
»Wozu hat man Smartphones?«, sagte jemand im Hintergrund.
Kimmy sah, wie Em die Schultern hochzog. »Wir können nur hoffen, dass sich schnell jemand darum kümmert.« Sie schob den Mann, der weiter gegen die Aufzugstür schlug, beiseite und sagte zu der eingeschlossenen Frau, Hilfe sei unterwegs, sie solle sich möglichst ruhig verhalten. Es half nichts, die Frau schrie weiter.
»Panikattacke«, sagte Em, und Kimmy musste denken, dass Em bestimmt noch nie in ihrem Leben eine Panikattacke gehabt hatte. Nicht Em.
Für Kimmy war Angst eine Zeit lang ihr ständiger Begleiter gewesen. Der Grund dafür lag allerdings schon viele Jahre zurück. Damals hatte sie noch in Toronto gelebt. Mit ihrem Freund war sie abends im Bovine Sex Club verabredet gewesen, einem angesagten Indie-Club, der zwischen Chinatown und dem Fashion District lag. Es sollte eine junge kanadische Band namens Metric auftreten, und was Kimmy vorab von der Band gehört hatte, gefiel ihr. Sie freute sich auf den Abend.
Das Konzert fand nicht statt, denn irgendjemand versprühte Reizgas. Massenpanik brach aus. Kimmy stürzte zu Boden, und die Leute trampelten über sie hinweg. Sie spürte, wie ihre Rippen brachen, und das Atmen fiel ihr schwer, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern auch, weil das Gas in Nase und Hals brannte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis jemand sie hochriss und hinaustrug, doch bis dahin hatte sie schon so schlimme Quetschungen und Prellungen besonders im Bereich der Wirbelsäule erlitten, dass sie drei Monate lang im Krankenhaus liegen musste.
Während der ersten Wochen war sie überzeugt gewesen, nie wieder laufen zu können. Sie hatte kein Gefühl in den Beinen. Sie versuchte, sich ein Leben im Rollstuhl vorzustellen. Man gab ihr Antidepressiva und Beruhigungsmittel, damit sie diese Gedanken ertrug. Ihr Freund erwies sich wieder einmal als Feigling – nicht er hatte sie aus dem Club gerettet, wie sie nun wusste, sondern ein Fremder – und verließ sie. Kimmy hielt ihn nicht auf. Tag für Tag lag sie da, starrte an die Decke, weinte, haderte, hasste.
Aber es kam alles in Ordnung. Die Schwellungen gingen zurück, sie spürte ihre Beine wieder, nichts war dauerhaft geschädigt. Nur die Angst hatte sich festgesetzt. Man attestierte ihr eine posttraumatische Belastungsstörung und schickte sie zur Therapie. Sie brauchte lange, bis sie sich wieder in Menschenmengen traute. Bis sie nicht mehr in jedem Gebäude als Erstes überprüfte, wo die Notausgänge waren. Keine Heulkrämpfe mehr bekam, wenn im Fernsehen Bilder von Tränengaseinsätzen gegen Demonstranten zu sehen waren. Heute, gute zehn Jahre später, waren diese Ängste nur noch ein Schatten, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als der Feueralarm im Limeharbour Tower losging.
Rauch quoll in den Flur.
Kimmy hörte nicht, was Em zu ihr sagte. Sie starrte auf den sich ausbreitenden weißen Nebel und versuchte zu verstehen, was gerade geschah. Wo sie war. Für einen Augenblick sah sie nämlich die leere Bühne vor sich, die bunten Scheinwerfer, wie vor zehn Jahren im Bovine.
Um Kimmy herum aufgeregtes Schreien, atemloses Husten. Sie spürte, wie sich ihre Kehle verengte. Sie wollte nicht atmen müssen, gleichzeitig forderte ihr Körper, dass sie es tat, und kaum, dass sie Luft geholt hatte, brannten ihre Schleimhäute, als hätte man sie verätzt.
Tränengas. Oder Schlimmeres. Gift. Dieser Rauch war vergiftet. Die Bühne blitzte wieder auf, und Kimmy hörte das anschwellende Gemurmel Hunderter Menschen. Jemand schrie: »Raus hier, sofort!«, und Kimmy sah sich nach der Stimme um. Vier oder fünf ihrer Kollegen, sonst war dort niemand. Sie konnte nicht ausmachen, wer gerufen hatte. In ihren Ohren rauschten unzählige Stimmen durcheinander, alle in Angst, alle in Not.
Sie drückte sich gegen die Wand. Wusste, dass sie sterben würde. Wenn sie hier noch weiter dieses
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