Brixton Hill: Roman (German Edition)
setzte sich an seinen Rechner und schrieb die Geschichte von Frank Everett auf. Weil er der einzige Journalist war, der sie kannte, hätte er die Möglichkeit, sie für ein erfreuliches Honorar an den Guardian zu verkaufen. Er schickte sie an den Chef vom Dienst mit dem Hinweis: »Bitte nur Reisekostenerstattung.« Dafür wollte er kein Geld.
Der Guardian ging keine halbe Stunde später damit online.
Jay hatte mit Em darüber gesprochen, sie war vorbereitet. Er schickte ihr trotzdem eine SMS , dass es jetzt losging. Sie antwortete nicht. Weil die Quellen nicht leicht einsehbar waren, dauerte es etwas, bis auch die anderen nachzogen. Aber sie zogen nach. Bis Mittag war es in allen Radio- und Fernsehsendern, und Jay wurde mit Interviewanfragen überhäuft. Er lehnte ab mit der Begründung: »Alles, was ich darüber weiß, liegt bereits schriftlich vor.«
So wusste das ganze Land, dass Frank Everett nicht nur Gesundheit und Leben Hunderter, wenn nicht Tausender Menschen aus Profitgier gefährdet hatte, sondern dazu noch ein Terrorist war.
Genau genommen war Frank Everett natürlich nie ein Terrorist gewesen, aber gerade in dieser Zeit hörte es sich für die Schlagzeilen besser an. Die Menschen reagierten auf das Wort, und »mutmaßlicher Terrorhelfer« klang nicht nur unspektakulär, es war auch schlicht zu lang für eine Überschrift. Dass es sich außerdem um eine Jugendsünde handelte, verlor sich ebenfalls im Kleingedruckten. Jay hatte Em prophezeit, dass es so kommen würde. Ihre Reaktion war gewesen: »Da muss er jetzt wohl durch.«
Frank Everetts Geheimnis, das nun jeder kannte, war schnell erzählt: Als Student war er am Rande mit der RAF in Berührung gekommen. Er schien eine kleine Rolle bei der Mai-Offensive gespielt zu haben, genauer gesagt bei dem Bombenanschlag am 16. Mai 1972 in München auf dem Parkplatz des Landeskriminalamts: Dort war eine Gasflaschenbombe explodiert, die sich in einem abgestellten Wagen befunden hatte. Zehn Menschen wurden teilweise schwer verletzt, Hunderte Autos beschädigt oder zerstört, und der Schaden belief sich auf eine halbe Mil lion DM . Frank-Uwe Nesslinger, wie er damals noch hie ß, Sohn eines Bundesrichters und seit einigen Jahren schon mit der linken Szene sympathisierend, wurde wenige Tage später festgenommen, dann aber umgehend wieder laufen gelassen. Der Vorgang wurde vertuscht und weitgehend aus den Akten gestrichen, vermutlich auf Einwirke n seines Vaters. Frank-Uwe Nesslinger wurde in Deuts chland daraufhin nicht mehr gesehen. Er tauchte unter. Offenbar war er nach London geflohen, um dort ein neues Leben als Frank Binder zu beginnen. Der ehemalige RAF -Sympathisant wurde zum Geschäftsführer einer der größten Privatbanken des Vereinigten Königreichs und bereute seine Leidenschaft für das Konzept der Stadtguerilla bitter. Mit jedem Attentat der RAF schämte er sich umso mehr und ging innerlich meilenweit auf Abstand zu seiner einstigen politischen Überzeugung.
Am Abend nachdem sich die Meldung verbreitet hatte, gab es kaum noch Geschäftskunden, die ihr Geld den Everetts anvertrauten. Die Everett Privatbank war eine Aktiengesellschaft. Schon nach der Online-Meldung im Guardian begannen die Kurse zu fallen, und richtig dramatisch wurde es, nachdem die BBC in den Mittagsnachrichten etwas darüber brachte. Nach Börsenschluss war die Bank so gut wie nichts mehr wert.
Als sich Em zwei Wochen später endlich bei Jay meldete, entschuldigte er sich noch einmal für alles.
Sie sagte: »Unsinn.«
»Ich hab gerade dein Erbe vaporisiert.« Er versuchte zu lachen.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, dass meine Großmutter rechtzeitig einiges zur Seite geschafft hat.«
»Ah. Ja. Mit solchen Dingen kenne ich mich nur theoretisch aus. Man liest darüber, weißt du.«
»Das nächste Bier geht auf mich.«
»Mhm. Mein Bier selbst zu bezahlen, das bekomm ich gerade noch so hin.«
Sie schwiegen einen Moment. Er beschloss, ihr von Samir zu erzählen. »Wir räumen heute seinen Laden aus.«
»Heute schon?«
»Er hat was Neues. Er sagt, er will es hinter sich bringen.«
»Oh, wo geht er hin?«
»Brixton Hill. Nur ein paar Häuser weiter die Straße runter.«
»Klingt gut.«
»Die Lage ist natürlich schlechter. Es ist ein bisschen kleiner und ein bisschen teurer. Aber nicht viel teurer, sagt er.«
»Ich kann ja mal vorbeischauen.«
»Ja. Wär schön.«
»Ja.«
Sie schwiegen wieder ein bisschen, dann sagte Em: »Also dann. Bis die Tage.«
»Bis
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