Broadway-Grusical
ihrem Gesicht. Dahinter sah sie verschwommen die hassentstellte Fratze des Farbigen, der Liz tatsächlich auf offener Straße zeichnen wollte.
Bis er plötzlich nach hinten gerissen wurde. Liz konnte sich im letzten Augenblick von ihm lösen. Sugar fiel rücklings aufs Pflaster und blieb dort liegen.
Um seinen Hals lag eine Schlinge. Ein dünnes Lasso, dessen Ende von einem Mann gehalten wurde, der trotz der Hitze einen weißen Anzug trug. Jeder kannte ihn. Es war Lou, der Peitscher. Ein Zuhälter, der junge Mädchen auf den Strich schickte.
Die Schlinge nahm Sugar die Luft. Er lag auf dem Rücken und röchelte. Sein Gesicht quoll auf, aber Lou ließ ihn nicht los. »Geh weiter«, sagte er zu Liz, »und tu mir einen Gefallen. Wenn du Premiere hast, besorge mir eine Eintrittskarte. Okay?«
Liz Vacarro nickte. Sprechen konnte sie nicht. Die würgende Angst drückte ihre Kehle zu. Sie hastete wortlos weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Weit hatte sie es nicht mehr. Die Blicke der Zuschauer brannten in ihrem Rücken, und sie fragte sich, ob sie es hier tatsächlich noch bis zur Premiere aushalten konnte.
Das dreckige alte Haus kam ihr plötzlich wie ein Palast vor, dessen Wände ihr den nötigen Schutz boten. Sie stieß die alte Tür auf und stolperte in einen düsteren Hausflur. Sie lief nicht bis zur Treppe durch, sondern drehte sich nach rechts und fand an der Wand Halt. Dort blieb sie stehen, atmete keuchend und spürte auch den Schweiß, der an ihrem Körper herabrann.
Nur allmählich beruhigte sie sich. Das Zittern der Hände hörte ebenso auf wie das der Beine. Sie und ihre Mutter wohnten im zweiten Stock. Da musste sie hoch, aber sie wusste auch, dass die Wohnung kein sicheres Versteck vor irgendwelchen Übergriffen bot.
Die Treppenhäuser waren in diesen alten, grauen, stinkenden Buden nicht mehr als Schächte. Sauberkeit gehörte hier zu den Fremdworten. Man warf den Dreck und den Abfall kurzerhand auf die Stufen, wo sich zumeist niemand fand, der ihn auch wegräumte.
Auf der Treppe saßen zwei Kinder und teilten sich eine Banane. Wohnungstüren standen offen. Man konnte in die Buden hineinschauen. Sie stieg weiter hoch.
Ruhig war es nicht. Liz hatte das Gefühl, in eine brodelnde Höhle zu gelangen. Manchmal stank es nach Zigarettenrauch, dann wieder nach Öl oder irgendwelchen Gewürzen. Von den Toiletten, die sich auf jeder Etage befanden, drang ebenfalls ein Gestank, der schon menschenunwürdig war.
Müde und ausgelaugt erreichte Liz ihr Ziel. Die Wohnungstür war geschlossen. Sie wies einige Macken auf. Zwei davon stammten von Messerwürfen, die ein betrunkener Amokläufer vor einigen Monaten als Andenken hinterlassen hatte.
Abgeschlossen war nicht. Die Mutter ließ die Wohnung immer offen, obwohl ein Schloss vorhanden war, aber sie hatte den Schlüssel verlegt. Die Tür schwang quietschend nach innen. Zudem schabte sie über den Boden. Aber wer hobelte in so einem Haus schon das Holz ab?
»Mutter?« rief Liz, doch sie bekam keine Antwort. Ihr Blick fiel in die Küche, deren Einrichtungsgegenstände vom Sperrmüll stammten. Der gestohlene TV-Apparat wirkte darin wie ein modernes Kunstwerk. Die Mutter hatte ihn irgendwann mitgebracht. Wen kümmerte es hier schon, was gestohlen war?
»Deine Alte ist weg!«
Liz drehte sich um, als sie die Stimme hinter sich hörte. In der Tür zur Nachbarwohnung lehnte ein siebenjähriger Junge. Zwischen seinen Lippen qualmte eine Zigarette. »Ich habe sie gesehen.«
»Wann war das?«
»Eine Uhr habe ich nicht.«
»Schon lange her?«
»Kann sein.«
»Hat sie was gesagt?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Die spricht doch nicht mit mir. Ich glaube, sie war voll.«
Liz nickte. »Ja, schon gut, danke.« Sie empfand es als deprimierend, dass ein Siebenjähriger so respektlos von einer Frau sprach, die mehrere Kinder aufgezogen hatte. So war diese Welt eben, und daran würde auch sie nichts ändern können.
Liz hämmerte die Tür hinter sich zu. Sie verspürte plötzlich eine ungemein starke Wut, aber auch gleichzeitig eine große Trauer über die Verhältnisse hier. Es war furchtbar. Fast alle bewegten sich im Kreis. Nur sie wollte es schaffen.
»Und ich werde es packen«, sagte sie bei ihrem Eintritt, ballte die Hände, schob sich an dem kleinen Tisch vorbei und trat an das Fenster, um es zu öffnen. Es hatte keinen Sinn. Die Luft draußen war ebenso schlecht wie in der Küche. Zudem führte die Feuerleiter dicht vorbei. Es wäre nicht das erstemal
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