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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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konnte.
    Nach meiner Rückkehr aus dem Lager habe ich alle meine Gedichtbände in den Ofen geworfen und verbrannt. Ich sah zu, wie die Flammen Wörter, Sätze und Seiten verzehrten. Der Rauch, der aus den Gedichten aufstieg, war nicht vornehmer oder anmutiger als jeder andere Rauch. Er war nichts Besonderes. Später habe ich erfahren, dass Nösel, wie viele Professoren oder andere Männer, deren Beruf es war, die Welt zu erkennen und zu erklären, bei einer der ersten Razzien verhaftet worden war. Wenig später ist er gestorben, in einem Lager ähnlich dem meinen und hundert anderen Lagern, die wie giftige Blumen fast überall hinter der Grenze aus dem Boden geschossen waren. Die Gedichte haben ihm nicht geholfen, ja, vielleicht ist er sogar ihretwegen gestorben. Die vielen tausend Verse auf Latein, Griechisch oder in anderen Sprachen, die er als seinen größten Schatz im Gedächtnis bewahrte, waren ihm am Ende zu nichts nütze. Wahrscheinlich hat er sich, anders als ich, nicht wie ein Hund behandeln lassen. Ja, so wird es wohl gewesen sein. In der Dichtkunst kommen keine Hunde vor; sie will nichts von Hunden wissen.
    Orschwir wischte seinen Teller mit Brot aus.
    «Brodeck, Brodeck … Ich sehe doch genau, dass du nicht viel geschlafen hast», sagte er leise und vorwurfsvoll. «Sieh mal, ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen, o ja, sehr lange … Vorher habe ich kaum ein Auge zugebracht, aber in dieser Nacht war es, als wäre ich wieder sechs oder sieben Jahre alt. Ich habe meinen Kopf aufs Kissen gelegt, und drei Sekunden später war ich schon eingeschlafen …»
    Inzwischen war es hell geworden, und das weiße Tageslicht fiel schräg auf den rot-braunen Fliesenboden in der Küche. Man hörte jetzt auch die Tiere draußen auf dem Hof, Knechte riefen etwas, Wagenachsen quietschten.
    «Ich will den Leichnam sehen.» Der Satz war mir einfach so herausgerutscht. Orschwir sah mich erstaunt und zugleich bekümmert an. Seine Miene hatte sich schlagartig verändert. Sein Gesicht verschloss sich wie eine Muschel, auf die man ein wenig Essig träufelt, und plötzlich sah er wieder hässlich aus. Er nahm seine Mütze ab, kratzte sich am Kopf, erhob sich und ging zu einem der Fenster, wo er stehenblieb.
    «Wozu soll das gut sein, Brodeck. Hast du im Krieg nicht schon genug Tote gesehen? Sieht nicht einer aus wie der andere? Du sollst berichten, was geschehen ist. Du sollst nichts weglassen, aber auch keine nutzlosen Einzelheiten hinzufügen, die dich vom geraden Weg abbringen und den Leser verwirren oder sogar in die Irre führen könnten; denn vergiss nicht, Brodeck, dein Bericht wird gelesen werden, von Leuten, die in S. sehr hohe Ämter bekleiden, ja, du wirst gelesen werden, auch wenn du das bezweifelst …»
    Orschwir hatte sich umgedreht und musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle.
    «Ich schätze dich, Brodeck, aber ich muss dich warnen, als Bürgermeister und als … Ich bitte dich, komm nicht vom Weg ab. Eile nicht Dingen nach, die es nicht mehr gibt, die es nie gegeben hat.»
    Er richtete seinen großen Körper auf, gähnte und streckte die Arme zur Zimmerdecke.
    «Komm mit, ich will dir etwas zeigen.»
    Er war einen guten Kopf größer als ich. Aus der Küche traten wir in einen verwinkelten, langen Flur, der durch das ganze Haus führte. Es kam mir vor, als würden wir nie mehr aus diesem Flur herauskommen. Ich war wie benommen, orientierungslos. Ich wusste, dass Orschwir ein großes Haus hatte, aber nie hätte ich vermutet, dass es so labyrinthisch war.
    Das alte, vielfach umgebaute Gebäude stammte noch aus einer Zeit, als man sich weder um gerade Linien noch um eine logische Anordnung der Zimmer gekümmert hatte. Diodème hatte mir erzählt, die ersten Mauern des Hauses seien vor mehr als vier Jahrhunderten errichtet worden. Er habe in den Archiven eine Urkunde gefunden, aus der hervorging, dass der Kaiser dort im Herbst 1567 eine Rast einlegte, und zwar auf seiner Reise an die Grenze von Kärnten, wo er sich mit dem türkischen Sultan traf. Orschwir vor mir ging so schnell, dass ein Luftzug entstand. Ich blieb dicht hinter ihm, er roch nach Leder, Schlaf, gebratenem Speck, Bart und ungewaschener Haut. Unterwegs begegneten wir keiner Menschenseele. Manchmal stiegen wir ein paar Stufen hinauf oder hinunter. Ich könnte kaum sagen, wie lange wir brauchten, ob einige Minuten oder Stunden, denn in diesem Flur kamen mir mein Raum- und Zeitgefühl abhanden. Endlich blieb Orschwir vor einer dicken

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