Brodecks Bericht (German Edition)
mit großen, in braunen Karton eingebundenen Büchern, in denen sie jahrelang die Blumen und Kräuter der Berge gesammelt hat. Über jedem Exemplar hat sie mit ihrer sorgfältigen Handschrift den Fundort, das Datum, das Wetter, den Geruch, die genauen Farben und die Ausrichtung der Pflanze notiert und außerdem manchmal einen kurzen Kommentar hinzugefügt, der mit der Pflanze gar nichts zu tun hat.
«Na, Brodeck, willst du wieder das große Buch der Toten sehen» – genau genommen sagte sie in dem bisweilen poetischen Dialekt unserer Gegend: Das Buch der Stillen .
So empfing sie mich an jenem Tag, als ich die Tür zu ihrem Café aufstieß und das Glöckchen bimmelte. Als wäre mir jemand auf den Fersen, schloss ich die Tür schnell wieder hinter mir und setzte mich, wahrscheinlich mit düsterem Gesichtsausdruck, an den Tisch, der sich in die hinterste Ecke drängt, als wollte er sich verstecken. Ich bat sie um ein starkes, heißes Getränk, denn ich zitterte wie eine alte Schnarre im Karfreitagswind. Mir war eiskalt, obwohl inzwischen die Sonne den Himmel erobert hatte.
Nach kurzer Zeit stellte Mutter Pitz eine große Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit vor mir ab. Ich trank, folgsam wie ein Kind, und schloss die Augen. Mein Blut strömte wieder, Hände und Kopf wurden warm. Ich lockerte den Kragen meiner Jacke und meines Hemdes. Mutter Pitz sah mir zu. Die Wände wankten, wie Pappeln, die sich im Wind wiegen, und die Stühle taumelten.
«Was ist denn passiert, Brodeck? Bist du dem Teufel begegnet?»
Sie hielt meine Hände, und ihr Gesicht war ganz dicht an meinem. Sie hatte sehr schöne, große grüne Augen mit goldenen Fleckchen am Rand der Iris. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, dass Augen alterslos sind und dass wir mit denselben Augen sterben, die am Tag unserer Geburt die Welt zum ersten Mal erblickten.
Sie schüttelte mich leicht und wiederholte ihre Frage. Was wusste sie, was durfte ich ihr sagen? Im Gasthaus Schloss, am Abend zuvor, waren nur Männer gewesen, und mit diesen Männern hatte ich einen Pakt geschlossen. Zu Hause hatte ich meinen Frauen nichts davon erzählt, und am Morgen war ich aufgebrochen, bevor sie wach waren. Hatten alle anderen ihren Frauen, Schwestern, Müttern und Töchtern auch verschwiegen, was passiert war?
Sie drückte meine Hände so fest, als wollte sie die Wahrheit aus ihnen herauspressen. Worte kamen mir in den Sinn:
«Nichts ist passiert, Mutter Pitz, nichts Schlimmes, etwas ganz Normales: Gestern Abend haben die Männer des Dorfes den Anderen getötet, im Gasthaus Schloss, einfach nur so, als hätten sie Karten gespielt oder irgendeinen Handel abgeschlossen. Das war schon lange absehbar. Ich bin etwas später dazugekommen, ich wollte Butter kaufen, bei dem Gemetzel war ich nicht dabei. Man hat mich nur beauftragt, den Bericht über das Geschehen zu verfassen. Ich soll aufschreiben, was seit seiner Ankunft bei uns geschehen ist und warum man nicht anders konnte, als ihn zu töten. Das ist alles.»
Aber die Worte sind mir nicht über meine Lippen gekommen. Sie blieben mir in der Kehle stecken und wollten nicht hinaus, obwohl ich mir große Mühe gab. Die alte Frau erhob sich, ging in ihre Küche und kam mit einem kleinen, rosa emaillierten Stieltopf wieder. Sie goss mir den Rest des Getränks in die Tasse, bedeutete mir, zu trinken, und ich trank. Wieder wankten die Wände, mir wurde heiß. Mutter Pitz ging noch einmal hinaus und kehrte mit einem ihrer dicken Bücher, ihrer Herbarien, unterm Arm zurück. Auf diesem klebte ein beschriftetes Etikett: Blüten vom Mai und Heilkräuter vom Juni . Sie legte das Buch vor mich auf den Tisch, setzte sich neben mich und schlug es auf.
«Sieh dir doch trotzdem meine kleinen Stillen an, Brodeck, das bringt dich auf andere Gedanken.»
Da spürte ich, dass der Andere , wie von diesen Worten herbeigelockt, von hinten auf mich zutrat. Er rückte seine goldgefasste Brille zurecht, wie er es oft getan hatte, lächelte mich mit seinem guten, runden Kindergesicht an, neigte seinen mächtigen Kopf über meine Schulter und betrachtete gemeinsam mit mir das Buch der Mutter Pitz, die getrockneten Pflanzen und die entschlafenen Blütenblätter.
Ich habe bereits erwähnt, dass er schweigsam war. Manchmal erinnerte er mich an eine Heiligenfigur. Und mit der Heiligkeit ist es seltsam: Wenn man ihr begegnet, erkennt man sie oft nicht und hält sie für Gleichgültigkeit, Spott, Hinterlist oder Verachtung. Man versteht nicht, man wird
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