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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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verschlingen, scheißen und fangen wieder von vorne an. Alles schmeckt ihnen, sie fressen alles, Brodeck, und stellen sich keine Fragen. Sie fressen alles … Verstehst du, was ich meine? Sie lassen nichts übrig, keine Spur, keinen Beweis, nichts. Und sie denken nicht nach, Brodeck. Sie haben kein Schuldbewusstsein. Sie leben jetzt, die Vergangenheit kennen sie nicht. Meinst du nicht, dass sie recht haben?»

6
    Ich versuche, mir diese Momente zu vergegenwärtigen, obwohl ich sie eigentlich für immer aus meinem Gedächtnis streichen will und alles hinter mir lassen möchte.
    Mir scheint, dass ich für mein Leben nicht geschaffen bin. Ich bin zu klein für das, was in meinem Leben passiert ist, ich bin nicht gemacht für so viele Brüche, so viel Leid. Vielleicht ist alles meine Schuld? Vielleicht weiß ich einfach nicht, wie man ein Menschenleben lebt? Vielleicht ist aber auch dieses Jahrhundert, in dem ich lebe, daran schuld, dieses zerstörerische, grausame Jahrhundert. Manchmal fühlt sich mein Kopf so an, als müsste er explodieren.
    Besagter Tag, der Tag nach dem Ereignis, liegt gar nicht so weit zurück. Und doch zerrinnt mir die Erinnerung daran wie Sand zwischen den Fingern. Ich erinnere mich nur an wenige Szenen und Worte, die sich klar und deutlich vor einem nachtschwarzen Hintergrund abzeichnen. Und vor allem weiß ich noch, wie die Angst sich anfühlte, die mich damals einzwängte wie ein zu enges Hemd. Bis heute konnte ich mir das Hemd nicht vom Leib reißen, es schnürt mich ein, von Woche zu Woche enger. Das Merkwürdigste ist, dass ich im Lager, als ich Hund Brodeck war, keine Angst mehr spürte. Dort gab es keine Angst mehr, weil ich sie überwunden hatte. Denn die Angst ist immer noch ein Teil des Lebens, sie umschleicht das Leben wie eine Hyäne das Aas. Das Leben nährt die Angst. Ich aber war nicht mehr lebendig, ich sah meinem eigenen Leben nur noch zu.
    Nachdem ich Orschwirs Gehöft verlassen hatte, irrte ich wahrscheinlich ziellos durch die Straßen. Es war noch früh am Morgen. Das Bild der Schweine, die mich mit ihren glasigen Augen musterten, ließ mich nicht los. Ich wollte es vergessen, aber vergeblich. Das Bild prägte sich mir für immer ein: diese Tiere, ihre riesigen Gesichter, ihre geblähten Bäuche, ihre blassen Augen, die mich ansahen, ihr Gestank. Mein Gott … Die widerlichen Schweine und das stille, zuversichtliche Gesicht des Anderen tanzten lautlos zu Orschwirs grausamer Gelassenheit.
    Schließlich stand ich vor Mutter Pitz’ Café, neben dem alten Waschhaus. Dorthin war ich wohl gegangen, weil ich sicher sein wollte, niemandem zu begegnen, zumindest keinem Mann. Mutter Pitz’ Café besuchen nur alte Frauen, sie treffen sich dort zu jeder Tageszeit, aber vor allem abends, und trinken Kräutertee oder Weinbrand und süßen Wacholderlikör, gemischt mit etwas Zucker, aus kleinen Gläsern, ein Getränk, das man bei uns den Lieblichen nennt.
    Eigentlich ist dieses Café gar kein echtes Café, sondern nur ein Zimmer neben der Küche. Drinnen gibt es nur drei kleine Tische mit bestickten Tischdecken, um die herum einige Stühle stehen, einen schmalen, schlecht ziehenden Kamin, einige Grünpflanzen in glasierten Tontöpfen und an der Wand eine Photographie von einem jungen Mann, der in die Kamera lächelt und mit zwei Fingern seinen Schnurrbart glatt streicht. Mutter Pitz ist über fünfundsiebzig Jahre alt. Sie geht gebückt, ihr Rücken steht fast im rechten Winkel zu den Beinen. Der junge Mann auf dem Foto ist ihr Ehemann Augustus Pitz, der vor einem halben Jahrhundert gestorben ist.
    Sicher bin ich der einzige Mann, der gelegentlich Mutter Pitz’ Haus betritt. Ich gehe zu ihr, weil sie mir manchmal hilft. Sie kennt alle Pflanzen der Hochebene, sogar die seltenen, und wenn ich etwas nicht in meinen Büchern finden kann, gehe ich zu ihr und frage sie. Dann sitzen wir stundenlang beieinander, unterhalten uns über Blumen und Gräser, Wege, Unterhölzer und die Wiesen, die die Schafe, Ziegen, Kühe und der ewig gehende Wind kurz halten. Und wir sprechen über die vielen Orte, an denen sie selbst schon lange nicht mehr gewesen ist.
    «Man hat mir die Flügel gestutzt, Brodeck … Dort oben, auf den Hochweiden, da habe ich wirklich gelebt, mit den Herden. Hier unten ersticke ich, die Luft ist schlecht, und wir leben wie Würmer, die auf dem Boden kriechen und Dreck fressen, aber dort oben …»
    Sie besitzt die schönsten Herbarien, die ich je gesehen habe. Ein ganzer Schrank

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