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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Auftrag nach bestem Wissen und Gewissen ausführen wird, aber … wie soll ich sagen … er ist ein Träumer, und das meine ich nicht abwertend, denn ich glaube, dass Träumen eine großartige Fähigkeit ist. Aber in diesem Fall sollte er aufpassen, dass er nicht alles durcheinanderbringt, Wirklichkeit und Träume, Geschehenes und Eingebildetes … Ich bitte ihn also eindringlich, dass er so weitermacht und seine Phantasie zügelt.»
    Mir gingen Limmats Worte nicht mehr aus dem Kopf. Wie sollte ich sie verstehen? Ich habe keine Ahnung.
    «Wir wollen dich nicht länger aufhalten, Brodeck. Bestimmt willst du schnell wieder nach Hause.»
    Orschwir stand auf und ich ebenfalls. Ich grüßte die anderen, indem ich kurz nickte, und ging zur Tür. In diesem Augenblick erwachte Rechtsanwalt Knopf aus seiner Lethargie. Sein Ziegenmeckern holte mich ein:
    «Was hast du für eine hübsche Mütze, Brodeck, die muss schön warm sein. So eine Mütze habe ich noch nie gesehen … Woher hast du sie?»
    Ich drehte mich um. Rechtsanwalt Knopf kam auf seinen krummen Beinen auf mich zugewackelt und hatte nur Augen für die Mütze des Anderen , die ich wieder aufgesetzt hatte. Jetzt war er ganz nahe bei mir und streckte begierig seine Hand danach aus. Ich spürte, wie seine Finger durch das Fell strichen.
    «Einzigartig, was für eine schöne Arbeit … Wundervoll! Die hält dich bestimmt schön warm, vor allem bei dem Wetter, was jetzt kommt … Ich beneide dich, Brodeck …»
    Zittrig streichelte Knopf über die Mütze. Sein Atem roch nach Tabak, und in seinen Augen sah ich ein fiebriges Licht glimmen. Plötzlich fragte ich mich, ob er vielleicht verrückt geworden war. Göbbler trat zu uns.
    «Brodeck, du hast nicht geantwortet, als der Herr Rechtsanwalt dich gefragt hat, wer dir die Mütze gemacht hat.»
    Ich zögerte, wusste nicht, ob ich schweigen oder einfach eine kurze, knappe Antwort geben sollte. Göbbler wartete. Auch Limmat war zu uns herübergekommen und zwängte seinen dünnen Hals in den Kragen seiner Samtjacke.
    «Göbbler», sagte ich endlich in vertraulichem Tonfall, «du wirst es mir nicht glauben, obwohl es die reine Wahrheit ist. Es ist ein Geheimnis, also versprich mir, dass du es niemandem verrätst, stell dir vor: Die Jungfrau Maria hat mir die Mütze genäht, und der Heilige Geist hat sie mir gebracht!»
    Ernst-Peter Limmat brach in Gelächter aus, Knopf lachte auch. Nur Göbbler guckte mürrisch. Seine fast erloschenen, kalten Augen suchten meinen Blick. Ich ließ die Männer stehen.
    Der Schneefall draußen hatte nicht aufgehört, und der Weg, den der Zungfrost erst vor einer Stunde frei geschaufelt hatte, war schon nicht mehr zu sehen. Die Straßen des Dorfes waren menschenleer. Die Lichterkränze der Laternen auf den Dachgiebeln schwankten. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, wehte aber jetzt sacht und ließ die Flocken in alle Richtungen tanzen. Plötzlich spürte ich, dass der alte Ohnmeist seine kalte Schnauze an mein Hosenbein drückte. Ich wunderte mich über diese Vertraulichkeit und fragte mich, ob er mich vielleicht für jemand anders, ob er mich nicht gar für den Anderen hielt; er war der einzige Mensch, bei dem der Hund je zutraulich gewesen war.
    Durch die Kälte gingen wir Seite an Seite weiter, der Hund und ich. Die Luft roch nach Schnee und dem Rauch der Tannenholzfeuer, der stoßweise aus den Schornsteinen wehte. Ich weiß nicht mehr genau, woran ich dachte. Aber ich weiß, dass ich plötzlich weit weg war von den Straßen, dem Dorf und den vertrauten und fremden Menschen. Ich ging neben Emélia, die Arme untergehakt. Sie trug einen Mantel aus blauem Stoff, dessen Ärmel und Kragen eine dünne Borte aus grauem Kaninchenfell einfasste. Ihr Haar, ihr wundervolles Haar, verbarg sich unter einem kleinen roten Hut. Es war bitterkalt und wir froren. Zum zweiten Mal gingen wir an diesem Abend aus. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihrem Gesicht, ihren Bewegungen, ihren kleinen Händen, ihrem Lachen und ihren Augen.
    «Sie sind also Student?»
    Sie sprach mit einem reizenden Akzent, der jedes Wort, gleich ob schön oder hässlich, wie eine kleine Melodie klingen ließ. Dreimal gingen wir die Elsi-Promenade entlang um den See herum. Wir waren nicht die Einzigen. Es gab noch andere Pärchen wie uns; sie sahen sich an, sprachen wenig, lachten wegen einer Nichtigkeit und verstummten dann wieder. Von Uli Rätte hatte ich mir ein paar Groschen geliehen und kaufte davon eine heiße Crêpe in der Bude

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