Brodecks Bericht (German Edition)
Flasche, die vor ihm stand, und schmiss sie gegen die Wand. Dann noch eine, noch eine und noch eine Flasche, und je mehr Flaschen zerbrachen und überall Glassplitter in der Küche versprengt wurden, desto lauter lachte er, lachte wie ein Besessener und schrie dabei: Sieben Jahre Unglück! Sieben Jahre Unglück! Sieben Jahre Unglück! Dann verstummte er plötzlich, verbarg das Gesicht in den Händen und legte den Kopf auf den Tisch. Er schluchzte wie ein Kind.
Ich saß noch eine Weile bei ihm und wagte nicht, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Zweimal schniefte er laut, dann war Stille, aber er blieb liegen, den Kopf zwischen den Armen verborgen. Die Kerzen brannten eine nach der anderen herunter, und in der Küche wurde es immer dunkler. Pfarrer Peiper schnarchte vernehmbar und friedlich. Die Kirchturmuhr läutete zehn. Ich ging hinaus und schloss hinter mir leise die Tür.
Draußen überraschte mich die Helligkeit. Es fiel kein Schnee mehr, und der Himmel war ganz klar geworden. Zwar versuchten noch einige letzte Wolken, sich am Schnikelkopf zu halten, aber der jetzt aus Osten wehende Wind zerriss sie in Fetzen und fegte sie weg. Die Sterne glänzten silbern. Als ich den Kopf hob und sie ansah, hatte ich das Gefühl, in ein dunkles Meer einzutauchen, in dessen tintigen Tiefen Tausende Perlen glitzerten. Sie schienen ganz nah. Ich streckte sogar unwillkürlich den Arm aus, als könnte ich eine Handvoll einsammeln und Poupchette als Geschenk mitbringen.
Aus den Schornsteinen stieg senkrecht Rauch auf. Die Luft war wieder trocken, und Frost überzog die Schneehaufen vor den Häusern mit einer harten, schimmernden Kruste. In meiner Tasche ertastete ich die Seiten meines Berichts, den ich einige Stunden zuvor vorgelesen hatte. Nichts als ein paar dünne, federleichte Blätter, die aber so schwer wogen. Mir fiel wieder ein, was Peiper über den Anderen gesagt hatte, und ich wusste nicht, was davon er im Delirium gesprochen hatte und was ein Gleichnis sein sollte. Vor allem fragte ich mich, warum der Andere wohl beim Pfarrer gewesen war, zumal er, wie wir alle schnell bemerkt hatten, die Kirche mied und nie in die Messe ging. Was hatte er dem Pfarrer wohl erzählt?
Als ich am Gasthaus Schloss vorbeiging, sah ich, dass im großen Saal noch Licht brannte, und bekam, warum, weiß ich nicht, Lust hineinzugehen.
Dieter Schloss stand hinter dem Tresen und unterhielt sich mit Caspar Hausorn. Sie steckten die Köpfe so eng zusammen, als wollten sie sich küssen. Ich grüßte sie, worauf sie augenblicklich erstarrten, und setzte mich an einen Tisch in der Ecke, gleich neben dem Kamin.
«Ist noch Glühwein da?»
Schloss nickte. Hausorn drehte sich zu mir um und machte eine knappe Kopfbewegung, die man für einen Gruß hätte halten können. Dann neigte er sich wieder zu Schloss hinüber, flüsterte ihm etwas ins Ohr, der Wirt nickte zustimmend, nahm seine Mütze, trank sein Glas Bier in einem Zug aus und ging, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Zum zweiten Mal nach dem Ereignis hatte ich das Gasthaus betreten. Und wie beim ersten Mal konnte ich kaum glauben, dass an diesem äußerst gewöhnlichen Ort ein grausames Verbrechen geschehen war. Das Gasthaus sah aus wie jedes andere beliebige Dorfgasthaus: einige Tische, Stühle und Bänke, Regale mit Weinflaschen, gerahmte Spiegel, die so verrußt waren, dass sich in ihnen schon lange nichts mehr spiegelte, ein Möbelstück, in dem sich Schach- und Damebretter befanden, und auf dem Boden Sägespäne. Im Stockwerk darüber befanden sich die Zimmer, vier an der Zahl, von denen drei schon lange nicht mehr bewohnt waren. Aber im vierten, dem schönsten und größten Zimmer, hatte der Andere gewohnt.
Am Tag nach dem Ereignis war ich nach meinem Besuch bei Orschwir fast eine Stunde lang bei Mutter Pitz geblieben, hatte mich wieder gesammelt, Herz und Gedanken beruhigt, während sie vor meinen Augen die Seiten ihres Herbariums umblätterte und mir zu jeder der entschlafenen Blumen etwas erzählte. Irgendwann hatte ich mich dankend verabschiedet und war auf direktem Weg zum Gasthaus gegangen. Tür und Fensterläden waren geschlossen, zum ersten Mal sah ich Schloss’ Gaststätte so. Laut klopfte ich an die Tür und wartete. Nichts. Ich klopfte noch einmal, lauter, und diesmal öffnete sich ein Fensterladen einen Spaltbreit, und Schloss schaute misstrauisch und ängstlich heraus.
«Was willst du, Brodeck?»
«Mit dir reden. Mach auf!»
«Das ist wohl nicht der richtige
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