Brodecks Bericht (German Edition)
mehr würde fallen, bis zum nächsten Frühjahr.
Vor dem Rathaus hatte der Zungfrost die beiden Laternen rechts und links neben der Tür angezündet. Mit einer großen Schaufel kratzte er den Weg frei und schob den Schnee zu zwei Haufen zusammen. Er war von oben bis unten voller Schnee, er sah aus wie ein großes Huhn mit weißen Federn.
«Guten Tag, Zungfrost !»
«Gu … gu … guten Tag Bro … Brodeck. Ha … ha … hast … du gesehen, wie … wie … wie es schneit?»
«Ich möchte zum Bürgermeister.»
«Ich … ich weiß. Er wa … wa … wartet oben auf dich.»
Der Zungfrost ist ein paar Jahre jünger als ich. Trotz seines ständigen Grinsens ist er nicht geistig beschränkt. Sein Grinsen ist eher eine Grimasse. Eines Tages, vor langer Zeit, als er sieben oder acht Jahre alt war, erstarrten sein Gesicht, sein Lächeln und seine Zunge. Das geschah in einem anderen kalten Winter. Wir Kinder des Dorfes, kleine und große, hatten uns an einer Biegung des in jenem Jahr völlig zugefrorenen Staubi getroffen. Wir schlitterten über das Eis, rempelten uns an, lachten. Und irgendwann griff jemand, wer es war, wurde nie herausgefunden, das Butterbrot des Zungfrost – eine Scheibe Schinkenspeck in einem Kanten Brot – und warf es weit hinaus auf das Eis, bis fast ans andere Ufer. Der kleine Junge sah zu, wie sein Schinkenbrot ihm abhandenkam, und begann zu weinen, dicke, stumme Tränen, rund wie die Beeren einer Mistel. Wir lachten. Und dann rief einer: «Hör auf zu heulen, hol’s dir doch wieder!» Alle verstummten. Wir wussten, dass das Eis an der Stelle, wo das Brot liegengeblieben war, sehr dünn sein musste, aber keiner sagte ein Wort. Wir warteten ab. Der kleine Junge zögerte erst und kroch dann, vielleicht aus Trotz und weil er seinen Mut beweisen wollte, vielleicht aber auch einfach nur, weil er hungrig war, langsam auf allen vieren über das Eis, während wir anderen den Atem anhielten. Wir setzten uns nebeneinander auf die Uferböschung und sahen ihm zu. Wie ein kleines Tier bewegte er sich vorsichtig vorwärts, er wollte sich wohl so leicht wie möglich machen, obwohl er sicher nicht viel wog. Je näher er seinem Schinkenbrot kam, desto heftiger feuerte unsere kleine Schar ihn vom Ufer aus an. Gerade in dem Moment, als er die Hand nach seinem Brot ausstreckte, brach er ein. Das Eis unter ihm war plötzlich einfach weg, wie eine Tischdecke, die mit einem Ruck weggezogen wird, und er versank ohne einen einzigen Schrei im Wasser des Flusses.
Vater Hobel, ein Förster, der in der Nähe unterwegs war, zog ihn, durch unsere Schreie herbeigerufen, einige Minuten später mit Hilfe einer langen Stange aus dem Wasser. Das Gesicht des Jungen und sogar seine Lippen waren weiß geworden, seine Augen waren geschlossen, und er grinste. Wir hielten ihn für tot. Aber einige Stunden später, nachdem man ihn mit Alkohol abgerieben und unter dicke Decken gepackt hatte, wachte er wieder auf. Leben kehrte in seine Adern und Blut in seine Wangen zurück. Das Erste, was er sagte, war: Wo ist mein Schinkenbrot? Aber er stotterte, bei jedem Wort stolperte seine Zunge, als wäre sie in dem eisigen Flusswasser erstarrt. Seitdem heißt er der Zungfrost .
Im ersten Stock hörte ich Stimmen aus dem Ratssaal. Mein Herz schlug etwas schneller. Ich atmete tief, nahm meine Mütze ab, klopfte an und trat ein.
Der Ratssaal ist riesig, und ich würde sogar behaupten, dass er zu groß ist für das wenige, das es dort zu besprechen gibt. Er stammt aus einer anderen Epoche, einer Zeit, in der man den Reichtum einer Gemeinde noch an der Größe ihrer öffentlichen Bauwerke maß. Die Decken sind hoch. An den weißgekalkten Wänden hängen alte Landkarten und gerahmte Pergamente, auf denen in geneigter, verschnörkelter Schönschrift alle Rechte, Pachtzinsen und Frondienste verzeichnet sind. Sie stammen aus der Zeit, als das Dorf noch von den Herren von Molensheim abhängig war, also noch bevor der Kaiser der Gemeinde im Vertrag von 1756 den Freibrief gab und sie für unabhängig erklärte. An den Dokumenten hängen wächserne Siegel mit zusammengeschrumpften Bändern.
Normalerweise steht im Ratssaal ein großer Tisch, hinter dem die Gemeinderäte sitzen, der Bürgermeister in der Mitte. Auf den Bänken davor kann das Publikum Platz nehmen, wenn es den Beratungen beiwohnen möchte. An diesem Tag aber waren die Bänke in einer Ecke des Raums zusammengeschoben und unordentlich übereinandergestapelt worden. Vor dem Tisch
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