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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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standen nur ein Stuhl und ein kleiner Schreibtisch.
    «Tritt näher, Brodeck, wir wollen dich doch nicht fressen …»
    Hinter dem großen Tisch saß Orschwir. Er war es, der gesprochen hatte, und die beiden anderen lachten leise und selbstzufrieden, wie um mich spüren zu lassen, dass sie Verbündete waren. Wer waren die beiden anderen? Links vom Bürgermeister betrachtete mich Rechtsanwalt Knopf durch sein schmutziges Lorgnon und stopfte dabei seine Pfeife. Rechts von Orschwir, neben dem noch ein Stuhl frei war, saß Göbbler, er neigte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können, denn seine Augen waren nicht mehr so zuverlässig. Göbbler … als ich ihn bemerkte, stockte mir das Blut in den Adern.
    «Willst du dich denn nicht setzen?», sprach Orschwir weiter, in einem Ton, der wohl herzlich klingen sollte. «Wir sind unter uns, Brodeck, fühl dich wie zu Hause, du hast nichts zu befürchten.»
    Fast hätte ich den Bürgermeister gefragt, warum mein Nachbar und Rechtsanwalt Knopf anwesend waren, die vielleicht wichtige Männer sind, aber nicht im Gemeinderat sitzen. Warum sie und nicht die anderen? Warum ausgerechnet diese beiden. In welcher Funktion saßen sie hinter dem großen Tisch?
    Mit all diesen Fragen war ich beschäftigt, als ich hörte, wie sich hinter mir die Tür öffnete. Auf Orschwirs Gesicht erschien ein breites Lächeln.
    «Bitte, kommen Sie doch herein», begrüßte er den Neuankömmling respektvoll. «Sie haben nichts versäumt, wir haben gerade erst angefangen.»
    Langsame Schritte hallten durch den Saal, ein Gehstock pochte auf den Boden. Ich hörte die Schritte hinter mir. Der Neuankömmling trat auf mich zu, aber ich wollte mich nicht umdrehen. Dann sagte eine Stimme: «Guten Tag, Brodeck.» Diese Stimme hatte mich schon oft begrüßt. Mein Herz setzte aus, ich schloss die Augen und spürte, wie meine Hände feucht wurden. Ich schmeckte etwas Bitteres in meinem Mund. Er ging weiter, mit seinen langsamen, bedächtigen Schritten. Dann zog er einen Stuhl über den Boden heran, und es wurde still. Ich schlug die Augen auf. Mein alter Lehrer Ernst-Peter Limmat hatte sich auf den Stuhl rechts neben Orschwir gesetzt und sah mich mit seinen großen blauen Augen an.
    «Hat es dir die Sprache verschlagen, Brodeck? Fang an, wir sind vollzählig. Du kannst jetzt vorlesen, was du geschrieben hast.»
    Orschwir sprach und rieb sich die Hände, als hätte er ein gutes Geschäft gemacht. Aber ich hatte ein weiteres Stück meines Glaubens und meiner Hoffnung verloren.
    Was hatten Sie dort zu suchen, mein lieber, alter Lehrer Limmat, hinter diesem Tisch, der aussah, als stünde er in einem Gerichtssaal? Waren Sie also auch mit im Bunde?

18
    Ihre Gesichter. Die Gesichter. War das wieder einer dieser quälenden Träume wie die, die mich nachts im Lager heimsuchten? Wo bin ich? Wird das alles einmal ein Ende haben? Bin ich in der Hölle? Aber welche Schuld habe ich auf mich geladen? Sag es mir, Emélia … Ich habe dich im Stich gelassen, ja, ich habe dich verlassen. Ich war nicht da, bitte, verzeih mir, mein Engel. Du weißt es, sie haben mich mitgenommen, und ich konnte nichts dagegen tun. Sag etwas zu mir. Sag mir, wer ich bin, sag mir, dass du mich liebst. Und hör auf zu singen, bitte, hör auf, dieses Lied zu leiern, das mir das Herz zerspringen lässt. Öffne deinen Mund und sprich. Ich kann jetzt alles ertragen, alles hören. Ich bin so müde, so unbedeutend, und ohne dich ist mein Leben ohne Sinn. Ich weiß, dass ich Staub bin. Ich bin nutzlos.
    Heute Abend habe ich etwas zu viel getrunken. Draußen ist tiefe Nacht. Ich habe vor nichts mehr Angst, ich muss alles aufschreiben. Sie können ruhig kommen. Ich warte auf sie, ja, ich warte.
    Im Ratssaal habe ich also die etwa zehn Seiten vorgelesen, auf denen ich die Zeugenaussagen notiert und den zeitlichen Ablauf des Geschehens rekonstruiert habe. Meine Augen hingen an den Zeilen, und ich schaute nicht ein Mal zu den Männern auf, die mir gegenübersaßen und zuhörten. Immer wieder rutschte ich auf dem Stuhl nach vorn, denn die Sitzfläche neigte sich, und der Schreibtisch war so klein, dass ich kaum meine Beine darunterquetschen konnte. Ich saß unbequem, und genau das hatten sie beabsichtigt: Ich sollte mich unwohl fühlen in dem riesigen Raum, der einem Gerichtssaal glich. Als wäre ich ein Angeklagter.
    Ich las mit eintöniger, gleichgültiger Stimme. Ich war erschrocken und bitter enttäuscht, dass ich hier ausgerechnet meinem alten Lehrer

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