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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Kloake wird ihr Geheimnis nicht mehr preisgeben. Hier ist es sicher. Sie können wieder ruhig schlafen, während mein Kopf überläuft, weil es zu viel ist, weil ich nicht mehr kann und trotzdem weitermache, Brodeck. Ich versuche durchzuhalten und werde mit ihren grauenhaften Geheimnissen sterben. Siehst du diesen Wein? Er ist mein einziger Freund, er schenkt mir ein wenig Schlaf und lässt mir die Last, die ich trage, kurzzeitig leichter erscheinen. Ich erzähle dir das nicht, damit du mich bedauerst, sondern damit du mich verstehst … Du fühlst dich allein, weil du das Verbrechen schildern musst, ich fühle mich allein, weil ich den Verbrechern vergeben muss.»
    Er hielt inne, und im flackernden Licht der vielen Kerzen sah ich deutlich, dass ihm Tränen in den Augen standen.
    «Früher habe ich nicht gesoffen, Brodeck, das weißt du genau. Vor dem Krieg habe ich nur Wasser getrunken, und ich wusste, dass Gott immer ganz nahe bei mir ist. Aber der Krieg … Vielleicht brauchen die Völker der Erde solche Albträume. Man verwüstet, was man in vielen Jahrhunderten aufgebaut hat, zerstört, was man gestern noch gepriesen hat, heißt gut, was man gestern noch verdammt hat. Der Krieg ist, als fegte eine große Hand einfach alles beiseite. Im Krieg triumphiert das Mittelmaß, der Verbrecher bekommt einen Heiligenschein, man kniet vor ihm nieder, spendet Beifall und umschmeichelt ihn. Wie düster und monoton muss das Leben den Menschen vorkommen, dass sie Massenmord und Untergang herbeisehnen? Ich habe zugesehen, wie sie zum Abgrund eilten, am Rand entlanggingen und fasziniert in die grauenhafte Leere hinunterblickten, in der die gemeinsten Leidenschaften brodelten: Zerstören! Besudeln! Vergewaltigen! Töten! Wenn du sie gesehen hättest …»
    Der Pfarrer packte mein Handgelenk und drückte es fest.
    «Was glaubst du, warum ertragen sie meine sinnlosen Predigten und meine Messen, in denen ich fluche und Zoten erzähle? Warum kommen sie alle? Warum hat keiner je den Bischof um meine Abberufung gebeten? Weil sie Angst haben, Brodeck, ganz einfach, weil sie Angst haben, vor mir, weil ich alles über sie weiß. Angst regiert die Welt. Die Angst packt die Männer an ihren Eiern. Wenn ich in meiner Kirche auf der Kanzel stehe, sehe ich ihre Gesichter. Ich sehe hinter die Fassade ihrer Sanftmut, ich rieche ihren beißenden Angstschweiß, ja, den rieche ich. Aus ihrer Arschritze fließt bestimmt kein Weihwasser, das kannst du mir glauben. Bestimmt verfluchen sie sich selbst, weil sie mir alles erzählt haben … Weißt du noch, Brodeck, als du mein Messdiener warst?»
    Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, hatte ich großen Respekt vor dem Pfarrer Peiper. Er hatte eine tiefe, weiche Stimme, eine Stimme, die noch nicht rau geworden war, wie jetzt, von dem vielen Wein. Er lachte nie. Ich trug ein langes weißes Gewand, das einen kleinen roten Kragen hatte. Mit geschlossenen Augen atmete ich den Weihrauch ein und glaubte, dass Gott so besser in mein Inneres gelangen konnte. Kein Makel war an meinem kindlichen Glück. Es gab keine Unterschiede zwischen den Menschen. Ich hatte vergessen, wer ich war und woher ich kam. Dass zwischen meinen Schenkeln ein kleines Stück Haut fehlte, hatte ich nie beachtet, und keiner hatte mir einen Vorwurf daraus gemacht. Wir waren alle das Volk Gottes. Ich stand am Altar unserer kleinen Kirche, neben Pfarrer Peiper. Er blätterte die Seiten des großen Buches um, hielt die Hostie und den Kelch hoch, ich schwenkte das Glöckchen. Ich reichte ihm Wasser und Wein und die weiße Serviette, mit der er sich die Lippen abtupfte. Ich wusste, dass es ein Paradies für die Guten und eine Hölle für die Bösen gab. Alles erschien mir sehr einfach.
    «Ein Mal hat er mich besucht …»
    Peiper hatte den Kopf gesenkt und flüsterte nur noch. Ich nahm an, er spräche wieder von Gott.
    «Er ist gekommen, aber ich glaube, ich konnte ihn nicht verstehen. Er war so … anders. Ich konnte nicht … Ich konnte ihn nicht verstehen.»
    Plötzlich begriff ich, dass der Pfarrer den Anderen meinte.
    «Das musste ja so enden, Brodeck. Dieser Mann war wie ein Spiegel, verstehst du, er sagte nichts, man sah nur sich selbst in ihm. Vielleicht war er auch der letzte Abgesandte Gottes, bevor der den Laden dichtgemacht und die Schlüssel weggeworfen hat. Ich bin die Kloake, aber er war der Spiegel. Und Spiegel, Brodeck, müssen brechen, früher oder später.»
    Wie zur Bekräftigung seiner Worte nahm Peiper die

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