Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
begegnet bin. Ich las meinen Bericht, aber meine Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt. Viele Erinnerungen an Limmat fielen mir wieder ein, weit zurückreichende Erinnerungen an das erste Mal, als ich die Schule betreten hatte und seinem Blick begegnet war, als seine großen Augen mich ansahen, tiefblau wie eine Gletscherspalte. Dann erinnerte ich mich an die Stunden, die ich so sehr geliebt hatte, wenn er mich abends nach der Schule noch nicht gehen ließ und sich geduldig neben mich setzte, um mir bei den Aufgaben zu helfen. Dann war seine Stimme weniger streng. Wir waren nur zu zweit, und er sprach freundlich mit mir, korrigierte meine Fehler und machte mir Mut. Ich erinnere mich, dass ich, als ich noch ein kleiner Junge war, nachts oft versucht habe, mich an das Gesicht meines Vaters zu erinnern, und mir stattdessen das Gesicht meines Lehrers erschien, und ich erinnere mich auch, wie tröstlich dieses Bild für mich gewesen war.
    Als ich vorhin nach Hause gekommen bin, habe ich die Girlanden aus Totentrompeten abgehängt, die Limmat mir geschenkt hatte, als ich wegen der Füchse bei ihm war. Ich habe sie ins Feuer geworfen.
    «Bist du verrückt geworden? Was haben dir die Pilze getan?», hat Fédorine mich gefragt, die mir zugesehen hatte.
    «Sie haben mir nichts getan. Aber die Hände, die sie geknüpft haben, sind schmutzig.»
    In ihrem Schoß lagen Stricknadeln und ein Knäuel aus dicker Wolle.
    «Du redest Unsinn, Brodeck.»
    Das sagt sie immer, wenn sie mir nicht glaubt, was ich ihr erzähle.
    Ich antwortete nicht und nahm die Literflasche Schnaps und ein Glas und ging zum Schuppen hinüber. Es kostete mich einige Minuten, den Schnee wegzuräumen, der sich vor der Tür aufgehäuft hatte. Und es schneite immer noch. Der Wind hatte aufgehört und die Flocken sich selbst überlassen. Sie schwebten in eigenwilligen, anmutigen Wirbeln auf die Erde herab.
    Als ich meinen Bericht gelesen hatte, herrschte Stille im Ratssaal. Alle warteten, dass einer das Wort ergriff. Ich blickte auf und sah sie an. Rechtsanwalt Knopf zog an seiner Pfeife, als ob sein Leben davon abhinge. Er bekam nur dünnen Rauch heraus, was ihn offensichtlich ärgerte. Göbbler schien zu schlafen, Orschwir schrieb etwas auf ein Blatt Papier. Nur Limmat betrachtete mich lächelnd. Dann hob der Bürgermeister den Kopf.
    «Gut, Brodeck, sehr gut. Sehr interessant und gut formuliert. Mach weiter so.»
    Er wandte sich zu den anderen um. Schließlich sagte Göbbler: «Ich habe mehr erwartet, Brodeck. Ich höre so oft deine Schreibmaschine klappern. Der Bericht ist noch lange nicht fertig, und dennoch habe ich den Eindruck, dass du sehr viel schreibst …»
    Ich versuchte, meinen Zorn zu verbergen, versuchte, ganz ruhig zu antworten. Dabei hätte ich ihm am liebsten gesagt, er solle sich besser um seine Frau kümmern, die mit ihrem Arsch alle Männer verrückt mache, statt um das, was ich geschrieben oder nicht geschrieben habe. Aber ich antwortete nur, ich sei es nicht gewohnt, solche Berichte zu schreiben, und es falle mir schwer, den richtigen Ton zu treffen und die richtigen Worte zu finden; außerdem sei es schwierig, die Zeugenaussagen in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen und klar darzustellen, was in den vergangenen Monaten wirklich geschehen ist. Ja, sagte ich, es sei schon richtig, ich schreibe ununterbrochen auf der Maschine, aber ich müsse immer wieder von vorne anfangen, durchstreichen, die Seiten zerreißen, und so sei es zu erklären, warum ich nicht sehr schnell vorankäme.
    «Verzeihung, Brodeck, ich wollte dich nicht ärgern. Es war nur eine kleine Anmerkung», sagte Göbbler und tat verlegen.
    Orschwir hatten meine Rechtfertigungen offenbar zufriedengestellt. Noch einmal sah er sich zu den Männern um, die neben ihm saßen. Siegfried Knopf sah beruhigt aus, weil seine Pfeife wieder zog. Er sah sie wohlwollend an, streichelte sanft den Pfeifenkopf und schenkte seiner Umgebung keine Aufmerksamkeit.
    «Vielleicht wollen Sie noch eine Frage stellen, Herr Lehrer?», fragte der Bürgermeister respektvoll und wandte sich dem alten Lehrer zu. Ich spürte, dass mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat, wie damals, als er mich in der Klasse vor allen Mitschülern abfragte. Limmat lächelte, ließ sich Zeit und rieb seine schmalen Hände aneinander.
    «Nein, keine Frage, Herr Bürgermeister, eher eine Bemerkung, nur eine Bemerkung … Ich kenne Brodeck gut, sogar sehr gut, und ich kenne ihn schon lange. Ich weiß, dass er unseren

Weitere Kostenlose Bücher