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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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gleich neben der Eislaufbahn. Der Verkäufer gab einen großen Löffel Honig auf unsere Crêpe und sagte: «Für die Verliebten!» Wir lächelten, wagten aber nicht, uns anzusehen. Ich bot die Crêpe Emélia an, sie nahm sie wie einen Schatz entgegen, teilte sie in zwei Hälften und gab mir eine davon. Die Nacht kam und mit ihr zusammen der Frost, der Emélias Wangen noch rosiger färbte und ihre braunen Augen noch strahlender aussehen ließ. Wir aßen die Crêpe und sahen uns dabei an. Wir waren am Anfang unseres Lebens.
    Der Ohnmeist stieß einen langgezogenen Seufzer aus, der mich wieder in die Gegenwart zurückholte. Noch einmal rieb er seinen Kopf an meinem Bein, dann ging er mit Trippelschritten fort und wedelte dabei mit dem Schwanz, als ob er auf Wiedersehen sagen wollte. Ich schaute ihm nach, bis er hinter dem Holzstoß verschwand, der entlang der Mauer von Gotts Werkstatt aufgestapelt ist. Wahrscheinlich hatte er dort einen Unterschlupf für den Winter gefunden.
    Ich hatte nicht auf den Weg geachtet. Wir waren am Rand des Dorfes angelangt, in der Nähe der Kirche, beim Friedhof. Der Schnee fiel noch immer dicht. Der Wald begann kaum dreißig Meter dahinter, und dennoch war noch nicht einmal der Waldsaum zu erkennen. Als ich die Kirche sah, dachte ich an den Pfarrer Peiper, und weil ich in seiner Küche Licht bemerkte, beschloss ich, an seine Tür zu klopfen.

19
    Peiper hatte sich regelmäßig nachgeschenkt, während er mir zuhörte und ich ihm mein Herz ausschüttete. Ich hatte lange gesprochen und ihm fast alles gesagt, aber nicht erwähnt, dass ich außer dem Bericht noch meine eigene Version der Geschichte aufschreibe. Von meinen Zweifeln und meiner Furcht hatte ich ihm erzählt und auch von dem merkwürdigen Gefühl, ich sei in ein Fangnetz geraten. Aber wer hatte die Fäden gesponnen, wer hatte mich ins Netz getrieben, und vor allem: Wie würde ich mich wieder befreien können? Ich schwieg, und Peiper sagte einige Zeit nichts. Das Reden hatte mir gutgetan.
    «Wem hast du dich anvertraut, Brodeck, dem Menschen Peiper oder dem, was vom Pfarrer noch übrig ist?»
    Ich zögerte, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Peiper spürte meine Verlegenheit und fuhr fort:
    «Ich frage das, weil es, wie du weißt, nicht dasselbe ist, auch wenn ich gemerkt habe, dass du nicht mehr an Gott glaubst. Ich will dir ein bisschen helfen und dir ebenfalls etwas anvertrauen: Auch ich glaube nicht mehr an Gott. Lange, viele Jahre lang, habe ich mit ihm gesprochen und hatte immer das Gefühl, dass er mir zuhörte und auch antwortete, sei es durch Zeichen, durch Eingebungen oder durch Gesten, zu denen er mich anleitete. Aber dann war es vorbei. Jetzt weiß ich, dass es ihn nicht gibt oder, was auf dasselbe herauskommt, dass er für immer gegangen ist: Wir sind allein, das ist die Wahrheit. Trotzdem führe ich seine Geschäfte mehr schlecht als recht weiter, der Laden läuft noch. Das tut niemandem weh, und außerdem gibt es hier einige alte Seelen, die noch viel einsamer und verlassener wären, wenn ich das Theater zumachte. Jede Vorstellung gibt ihnen ein wenig Kraft, um weiterzumachen, verstehst du? Ein Sakrament jedoch habe ich nie gebrochen, nämlich das Beichtgeheimnis. Es ist mein Kreuz, und ich trage schwer daran. Ich werde es tragen bis zum Ende.»
    Plötzlich ergriff er meine Hand und drückte sie fest.
    «Ich weiß alles, Brodeck, alles. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, was alles bedeutet.»
    Er hielt inne, weil er bemerkt hatte, dass sein Glas leer war, stand auf und warf einen ängstlichen Blick durch den Raum, wo die vielen Flaschen herumstanden. Es dauerte ein bisschen, bevor er eine fand, in der noch ein Rest Wein war, die aber drückte er lächelnd an sich, als wäre sie eine langentbehrte Freundin, ging zu seinem Stuhl zurück, setzte sich und schenkte sich ein.
    «Die Menschen sind sonderbar. Sie begehen das schlimmste Verbrechen, ohne sich viel dabei zu denken, und dann können sie mit der Erinnerung an ihre Tat nicht weiterleben. Sie müssen sie unbedingt loswerden, und deshalb kommen sie zu mir. Sie wissen, dass nur ich die Macht habe, sie zu trösten, und erzählen mir alles. Ich bin eine Kloake, Brodeck. Ich bin kein Priester, sondern der Kloakenmann. Ich bin der Mann, bei dem man zur eigenen Erleichterung seine Exkremente und allen anderen Unrat ablassen darf. Und dann gehen sie wieder, als wäre nichts gewesen. Gereinigt und bereit, wieder von vorne anzufangen. Denn sie wissen, die

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