Brodecks Bericht (German Edition)
den Bericht. Für das, was ich geschrieben, aber vor allem für das, was ich nicht geschrieben hatte.
Fédorine wusch Poupchette in einem Zuber. Die Kleine klatschte in die Hände, patschte aufs Wasser, lachte laut und rief immer wieder: «Klein Fisch, klein Fisch!» Nass, wie sie war, nahm ich sie in den Arm, drückte sie an mich und küsste ihre nasse, weiche, warme Haut, worüber sie noch mehr lachte. Hinter uns stand Emélia mit dem Gesicht zum Fenster, ihr Blick verlor sich in der riesigen weißen Weite des Tals, und sie summte ihr Lied. Poupchette strampelte sich los, und ich stellte sie auf den Boden. Sie nahm ein bisschen Schaum in die Hand, rannte zu ihrer Mutter und warf den Schaum in ihre Richtung. Emélia drehte sich zu der Kleinen um und sang weiter. Ihre erloschenen Augen betrachteten kurz Poupchettes hübsches Lächeln, dann sah sie wieder in die weiße Landschaft hinaus.
Ich fühlte mich schwach und hilflos. Ich versuche etwas aufzuschreiben, aber wer wird es lesen? Wer? Ich täte besser daran, ein Bündel mit Lebensmitteln, Kleidern und einigen schönen Andenken zu schnüren, Poupchette und Emélia auf den Arm und die alte Fédorine auf den Rücken zu nehmen, weit weg zu gehen und irgendwo neu zu beginnen. Ganz von vorne anfangen: Das ist es, woran man, wie Nösel uns einst erzählte, den Menschen erkennt. «Der Mensch ist ein Tier, das immer wieder neu anfängt.» Nösel machte als geübter Redner immer lange Pausen zwischen seinen Sentenzen; er stützte die Hände auf das breite Pult und ließ jedem Satz ein langes Schweigen folgen, auf das sich jeder seinen eigenen Reim machen sollte.
«Der Mensch ist ein Tier, das immer wieder neu anfängt.» Aber womit beginnt er immer wieder von Neuem? Mit seinen Irrtümern oder mit den zerbrechlichen Gedankengebäuden, die ihn manchmal dem Himmel ganz nahe bringen? Das verriet Nösel nicht. Vielleicht, weil er wusste, dass wir es im Leben, das für uns noch gar nicht richtig begonnen hatte, eines Tages selbst erfahren würden. Vielleicht aber auch einfach nur deshalb, weil er es nicht wusste, denn ihm selbst waren nie Zweifel gekommen. Er hatte sein ganzes Leben den Büchern gewidmet und dadurch die richtige Welt vergessen.
Nachdem Schloss mir gestern Abend den Glühwein gebracht hatte, nahm er uneingeladen mir gegenüber am Tisch Platz. Ich spürte, dass er mir etwas sagen wollte, aber ich hatte ihm nichts zu sagen. Ich war viel zu sehr mit dem beschäftigt, was Pfarrer Peiper mir erzählt hatte. Und außerdem wollte ich nur in Ruhe meinen Glühwein trinken und fühlen, wie die Hitze meinen Körper wieder zum Leben erweckte. Das war alles. Mehr wollte ich nicht. Unter meiner Schädeldecke rumorten zahllose Fragen, ich musste ein Puzzle zusammensetzen.
«Ich weiß, dass du mich nicht besonders gern magst, Brodeck», murmelte plötzlich Schloss, dessen Anwesenheit ich ganz vergessen hatte, «aber dennoch, ich bin nicht der Schlimmste von allen, verstehst du?»
Der Gastwirt kam mir noch dicker und verschwitzter vor als sonst. Er biss sich auf die fettigen, aufgesprungenen Lippen.
«Ich tue, was man mir sagt, das ist alles. Ich will keine Scherereien, aber ich mache mir so meine Gedanken … Ich bin ein einfacher Mann, ich bin nicht so intelligent wie du. Es stimmt, dass ich die Fratergekeime bedient habe, als sie das Dorf besetzten. Aber was hätte ich deiner Meinung nach denn tun sollen? Bedienen ist nun mal mein Beruf. Hätte ich mich denn von ihnen umbringen lassen sollen? Denn das hätten sie doch getan, wenn ich mich geweigert hätte, ihnen ein Glas Bier zu bringen … Was dir zugestoßen ist, Brodeck, das habe ich immer bedauert, und ich konnte nichts dafür, das kannst du mir glauben … Und was sie deiner Frau angetan haben … Mein Gott …»
Fast hätte ich Schloss ins Gesicht gespuckt, als er Emélia erwähnte, aber was er danach noch sagte, hielt mich zurück.
«Auch ich habe meine Frau geliebt, weißt du. Das kommt dir vielleicht merkwürdig vor, weil sie nicht besonders hübsch war, wie du dich erinnern wirst, aber seit sie nicht mehr da ist, kommt es mir vor, als wäre ich nur noch halb am Leben. Nichts ist mehr wichtig. Wäre Gerthe während des Krieges noch bei mir gewesen, wer weiß, vielleicht hätte ich die Fratergekeime dann nicht bedient. In ihrer Gegenwart habe ich mich stark gefühlt … Vielleicht hätte ich das große Messer genommen, mit dem ich immer Zwiebeln schneide, und hätte ihnen den Wanst aufgeschlitzt? Und dann,
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