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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Moment.»
    «Lass mich rein, Schloss, du weißt genau, dass ich den Bericht schreiben soll.»
    Ich sagte zum ersten Mal das Wort «Bericht», und es kam mir eigenartig vor, aber Schloss reagierte sofort. Er klappte den Fensterladen zu, und ich hörte ihn eilig die Treppe hinuntergehen. Sekunden später hantierte er an den Riegeln und öffnete die schwere Tür.
    «Komm rein, schnell!»
    So knapp hinter mir schlug er die Tür wieder zu, dass ich ihn fragte, ob er gar befürchte, hinter mir könne ein Geist mit hereinschlüpfen.
    «Darüber macht man keine Witze, Brodeck …»
    Danach bekreuzigte er sich zweimal.
    «Was willst du?»
    «Zeig mir das Zimmer!»
    «Welches Zimmer?»
    «Tu nicht so ahnungslos. Das Zimmer.»
    Schloss sah aus, als ob er nachdächte, und zögerte.
    «Warum willst du es sehen?»
    «Ich will es jetzt sehen. Ich will alles genau aufschreiben und nichts vergessen. Schließlich soll ich alles berichten.»
    Schloss wischte sich mit der Hand über die Stirn, die glänzte wie mit Schweinefett eingerieben.
    «Da gibt es nicht viel zu sehen, aber wenn du unbedingt willst … Komm mit.»
    Wir stiegen in den ersten Stock hinauf. Mit seinem dicken Körper nahm Schloss die ganze Breite der Treppe ein, und jede Stufe bog sich unter ihm. Er schnaufte. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche seiner Schürze und reichte ihn mir.
    «Schließ du auf, Brodeck.»
    Dreimal musste ich es versuchen, bevor ich den Schlüssel in das Schlüsselloch bekam. Ich brachte einfach meine zitternde Hand nicht unter Kontrolle. Schloss hielt sich dicht hinter mir und rang nach Luft. Endlich hörte man ein leises Klicken. Ich öffnete die Tür. Mein Herz flatterte wie ein verängstigter Vogel. Ich fürchtete mich davor, das Zimmer wiederzusehen, ich fürchtete mich, als sollte ich dort einem Toten begegnen. Aber was ich dann sah, versetzte mich in solches Erstaunen, dass meine Furcht wie weggeblasen war.
    Das Zimmer war vollkommen leer. Nichts war mehr darinnen, keine Möbel, keine Gegenstände, keine Kleider, kein Koffer, außer einem großen, an der Wand festgeschraubten Schrank. Ich öffnete die beiden Türflügel, aber er war ebenfalls leer. Nichts war mehr da, als ob der Andere sich nie dort aufgehalten, ja, als ob es ihn nie gegeben hätte.
    «Wo ist denn sein ganzes Gepäck hingekommen?»
    «Was meinst du, Brodeck?»
    «Mach dich nicht lustig über mich, Schloss.»
    Das Zimmer roch nach feuchtem Holz und Seife. Der Boden war gewischt und geschrubbt worden. Da, wo früher das Bett gestanden hatte, war ein großer dunkler Fleck auf dem Lärchenholzparkett.
    «Hast du den Boden gewischt?»
    «Einer musste es ja tun …»
    «Und der Fleck da, was ist das?»
    «Was glaubst du denn, Brodeck?»
    Ich drehte mich zu Schloss um.
    «Was glaubst du denn …», sagte er noch einmal und sah müde aus.

20
    Heute Morgen bin ich erst spät aufgewacht. In meinem Kopf hämmert es, ich muss wohl gestern Abend zu viel getrunken haben. Die Schnapsflasche ist fast leer. Mein Mund fühlt sich trocken an wie Zunder, und ich kann mich nicht erinnern, wie ich den Weg ins Bett gefunden habe. Bis spät in die Nacht habe ich geschrieben und weiß noch, dass ich meine Finger nicht mehr spürte, so steif waren sie vor Kälte geworden. Ich weiß auch noch, dass die Tasten der Schreibmaschine immer wieder blockierten. Auf den Fensterscheiben hatten sich Eisblumen mit vielen Verästelungen gebildet, und ich war so betrunken gewesen, dass ich glaubte, der Wald sei bis zum Schuppen vorgerückt und würde mich umzingeln.
    Fédorine hat mir keine Fragen gestellt, als ich schließlich aufstand. Sie kochte mir einen Kräutertee aus Quendel, Minze und Hauswurz und sagte einfach nur: «Trink, das wird dir guttun.» Wie früher, als kleiner Junge, tat ich, was sie sagte. Dann stellte sie einen Korb vor mich hin, den Alfred Wurzwiller etwas früher am Morgen gebracht hatte. In dem Korb waren ein Topf Kartoffelsuppe, ein Graubrot, ein halber Schinken, Kartoffeln und Lauch, aber kein Geld. Nicht wie sonst, wenn aus S. eine Zahlungsanweisung kommt, die mir versichert, dass die Verwaltung mich nicht völlig vergessen hat. Und dazu gibt es immer ein paar offizielle, mehrfach abgestempelte, unterzeichnete und gegengezeichnete Schriftstücke, welche die Zahlung bescheinigen. Aber in diesem Korb waren nur Lebensmittel. Ich wusste sofort, dass diese Leckereien der Lohn für meine Aussage gestern Abend sein sollten. Sie bezahlten mich für

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