Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
Qualm, der in den Augen brannte. Sie hängte den Schlüssel an einen Nagel und beachtete mich nicht weiter.
    Ich hastete durch die Straßen. Nur wenige Menschen waren unterwegs. An manchen Stellen sah man die Spuren, die das grauenvolle Geschehen vom Vortag hinterlassen hatte. Männer mit ängstlichen Gesichtern standen beisammen, diskutierten und drehten sich bei dem leisesten Geräusch erschrocken um. Die Türen einiger Häuser waren mit den Worten Dreckige Fremde! beschmiert, und auf vielen Gehwegen lag Glas, knirschte unter meinen Schritten und ließ mich frösteln.
    An Ulli Rätte hatte ich einen Abschiedsbrief geschrieben, für den Fall, dass ich ihn nicht in seinem Zimmer antreffen sollte. Aber ich hatte mich getäuscht. Er war da, jedoch so besoffen, dass er auf seinem Bett eingeschlafen war, ohne sich umzuziehen. Er hielt noch eine halbvolle Flasche in der Hand und stank nach Tabak, Schweiß und Fusel. Der linke Ärmel seiner Jacke war zerrissen, und ein großer Fleck war darauf zu sehen. Blut. Ich dachte, mein Freund sei verletzt, und schob den Ärmel hoch, konnte aber keine Wunde entdecken. Mir wurde kalt. Ich wollte nicht nachdenken, zwang mich, einfach an nichts zu denken. Ulli schlief mit offenem Mund und schnarchte laut. Ich schob ihm den Abschiedsbrief in die Hemdtasche und verließ das Zimmer.
    Ich habe Ulli Rätte nie wieder gesehen.
    Warum habe ich diesen Satz geschrieben, der nicht ganz der Wahrheit entspricht? Ich habe Ulli Rätte wiedergesehen, oder vielmehr habe ich einmal gemeint, ihn zu sehen. Das war im Lager. Er gehörte zu der anderen Seite, ich meine, zu den Männern, die uns quälten, nicht zu uns, zu denjenigen, die litten und geknechtet wurden.
    An jenem Morgen hatte es gefroren. Ich war Hund Brodeck, und mein Herrchen ging mit mir Gassi. Ich trug das Halsband, an dem die Leine befestigt war, musste auf allen vieren gehen, hecheln wie ein Hund, fressen wie ein Hund, das Bein heben wie ein Hund. Scheidegger ging wie ein kleiner Büroangestellter neben mir. Er wollte zur Latrinenbaracke. Bevor er hineinging, band er die Leine sorgfältig an einem in der Mauer eingelassenen Eisenhaken fest. Ich kauerte mich in den Schmutz, legte den Kopf auf die Hände und versuchte, die beißende Kälte zu vergessen.
    In diesem Augenblick meinte ich, Ulli Rätte zu sehen. Oder besser gesagt: Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn auch lachen gehört, sein ganz besonderes, schrilles, fröhlich schnarrendes Lachen. Er stand nur wenige Meter von mir entfernt mit dem Rücken zu mir, zwischen zwei weiteren Aufsehern. Die drei versuchten sich aufzuwärmen, indem sie in die Hände klatschten, und Ulli, oder Ullis Geist, sagte:
    «Wirklich, ein paradiesischer Ort und doch ganz irdisch, nur einen Steinwurf vom Scheitzerplatz entfernt. Ein Öfchen bullert, frisches Bier mit einer schönen weißen Schaumkrone wird einem von einer knackigen Serviererin gebracht, rund wie ein Schinken und ganz schön kess! Stundenlang kannst du da dein Pfeifchen rauchen, träumen und das verlauste Gesindel vergessen, das uns das Leben versaut!»
    Er schloss seinen Satz mit lautem Gelächter, in das die anderen einstimmten, dann dachte ich, er würde sich umdrehen, und versteckte mein Gesicht in den Händen. Nicht, weil ich Angst hatte, er könnte mich wiedererkennen, nein, ich wollte ihn nicht sehen, wollte seinem Blick nicht begegnen. Aber vor allem wollte ich mir die Illusion bewahren, dass dieser große, wohlgenährte Mann, der so fröhlich bei den Henkern stand, ganz in meiner Nähe und doch in einer anderen Welt, in der Welt der Lebendigen nämlich, dass dieser Mann nicht Ulli Rätte sein konnte. Das war nicht mein Ulli, mit dem ich so viel Zeit verbracht und manches harte Stück Brot, manchen Teller Kartoffeln, manch glücklichen Moment geteilt hatte, mit dem ich geträumt und, die Arme untergehakt, endlose Spaziergänge gemacht hatte. Ich zog den Zweifel der Wahrheit vor, auch wenn ich die Wahrheit eigentlich kannte. Ja, ich zog den Zweifel vor, denn die Wahrheit hätte mich vielleicht umgebracht.
    Das Leben ist merkwürdig. Wie ein Fluss reißt es uns mit, wir wissen nicht, wohin, und spült uns nach vielen Windungen an Land. Ich weiß nicht, wie aus dem Studenten Ulli Rätte ein Lageraufseher werden konnte, ein Rädchen in der großen, gut geölten Todesmaschinerie, in die man uns verschleppt hatte. Ich weiß nicht, welcher Schicksalsschlag sein Wesen derart verändert hatte, was passiert war, dass mein Freund Ulli, der keiner

Weitere Kostenlose Bücher