Brodecks Bericht (German Edition)
du bist ja noch grün hinter den Ohren!»
Der Alte sah aus, als wäre er eingeschlafen. Seine Augen waren geschlossen, und er sagte nichts mehr. Der Junge schubste seinen Bruder wütend weg, stieß mich mit seinem Stock zur Seite und blieb vor dem alten Mann stehen, der wieder am Boden lag. Es war ganz still, die Nacht hüllte die Stadt in Watte. Da fuhr ein Windstoß durch die Gasse und wirbelte etwas Schnee auf. Mir war, als ob ich träumte oder auf der Bühne des Stüpispiel-Theaters stünde, das oft groteske Stücke aufführte, schreckliche Stücke, die immer als Farce endeten. Aber da holte der Junge aus, schwang den Stock hoch über seinen Kopf und ließ ihn schreiend auf den alten Mann niederfahren, der keinen Laut von sich gab, aber die Augen weit aufriss und zu schlottern begann, als ob man ihn in einen eisigen Fluss geworfen hätte. Der Junge schlug nochmal: Der zweite Schlag traf den Greis an der Stirn, der dritte an der Schulter, der vierte und der fünfte … Er machte immer weiter und lachte. Seine Kameraden feuerten ihn an, klatschten in die Hände und skandierten im Rhythmus «Oi, oi, oi» . Der Schädel des Alten zerplatzte wie eine Nuss, die man zwischen zwei Steinen knackt. Der Junge schlug wie verrückt immer heftiger zu und schrie. Aber während er weiterprügelte und lachte und seine beiden Kameraden ihn weiter anfeuerten, wurde ihm offenbar nach und nach bewusst, was er da tat, und der Ausdruck auf seinem blutbespritzten Gesicht änderte sich. Anscheinend begann er zu verstehen, wie schrecklich seine Tat war, und das Grauen kroch in seine Glieder, seine Muskeln, seine Nerven, sein Gehirn. Die Schläge wurden langsamer, und dann hielt er inne. Entsetzt betrachtete er seinen mit Blut und Knochensplittern verschmierten Stock und musterte seine Hände, als gehörten sie nicht mehr zu ihm. Dann sah er wieder den Alten an, dessen Gesicht mit den angeschwollenen Lidern bis zur Unkenntlichkeit entstellt war.
Plötzlich ließ der Junge den Stock fallen, als hätte er sich die Hand verbrannt. Heftige Krämpfe schüttelten ihn, und er erbrach zweimal hintereinander eine gelbe Flüssigkeit, dann rannte er weg und wurde von der Dunkelheit verschluckt, während seine beiden Kameraden sich vor Lachen krümmten und der Anführer, der sein Bruder war, ihm nachrief:
«Gute Arbeit, Ullrich! Der Alte hat sein Fett weggekriegt! Jetzt bist du ein Mann!»
Er trat dem Alten noch einmal in die Seite, und dann wandten sich die beiden ab, gingen untergehakt die Straße hinunter, seelenruhig, einen Schlager pfeifend, der gerade modern war.
Ich hatte mich nicht bewegt. Zum ersten Mal hatte ich einen Mord mit angesehen. Ich fühlte mich leer, ganz ohne Gedanken. In meinem Mund schmeckte ich etwas Bitteres. Ich konnte meinen Blick nicht von dem toten alten Mann wenden. Das Blut sickerte in den Schnee, und die tanzenden Flocken, die zu Boden fielen, nahmen die rote Flüssigkeit auf.
Da hörte ich wieder Schritte. Ich glaubte, sie kämen zurück, um auch mich zu töten.
«Verpiss dich, Brodeck!»
Es war die Stimme des Studenten, der sich stundenlang mit träumerischem Blick in die Bücher mit den Bildern der Sternenkonstellationen und Galaxien versenken konnte. Ich blickte zu ihm auf. Er sah mich an, nicht hasserfüllt, aber verächtlich, und sagte ganz ruhig:
«Verpiss dich! Ich werde nicht immer da sein, um dich zu beschützen.»
Dann spuckte er aus, wandte sich ab und ging fort.
27
Am nächsten Morgen hörte man, es seien siebenundsechzig Leichen von den Straßen eingesammelt worden. Man sagte, die Polizei habe keins der Verbrechen verhindert, obwohl sie dazu durchaus in der Lage gewesen wäre. Am Nachmittag sollte die nächste Demonstration stattfinden, die Stadt stand kurz vor dem allgemeinen Aufruhr.
Nach einer schlaflosen Nacht war ich bei Morgengrauen aufgestanden. Immer wieder hatte ich das Gesicht des mordenden Kindes und das des greisen Opfers vor mir gesehen, und das Geschrei des Mörders, die Litanei des Alten, das dumpfe Krachen der Schläge und das Knacken der brechenden Knochen klang mir in den Ohren. Mein Entschluss war gefasst. Ich packte meine Siebensachen zu einem Bündel zusammen und gab den Zimmerschlüssel meiner Wirtin zurück, Fra Haiternitz, die ihn wortlos entgegennahm und meine wenigen Abschiedsworte nur mit einem verächtlichen Lächeln beantwortete, sodass ihre schlechten Zähne zu sehen waren. In der Pfanne brieten Speck und Zwiebeln, und in ihrem Kabuff stand dichter, feuchter
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