Brodecks Bericht (German Edition)
früher gelehrt hat, dass viele Menschen Gottes nicht würdig sind, aber heute weiß ich, dass auch Gott der meisten von uns nicht würdig ist; denn die Menschen sind grausam miteinander, aber er ist der Schöpfer: Er hat den Menschen die Grausamkeit beigebracht.
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Heute Nachmittag habe ich alles, was ich geschrieben habe, noch einmal von Anfang an durchgelesen, ich meine nicht den offiziellen Bericht , sondern dieses Bekenntnis. Es fehlt ein klarer Aufbau, wahllos erzähle ich mal dieses, mal jenes. Aber ich muss mich nicht rechtfertigen. Die Worte fallen mir ein, und ich schreibe sie auf. Meine Erzählung wirkt so gestaltlos, weil auch mein Leben gestaltlos ist.
Am zehnten Juni, dem Tag des Volksfests für den Anderen , hatten sich das ganze Dorf und auch viele Leute von außerhalb bei den Markthallen zusammengefunden und warteten vor der kleinen Bühne, die der Zungfrost gebaut hatte. Wie gesagt hatte ich schon lange keine so große Menschenmenge mehr gesehen. Lauter fröhliche, lachende, friedliche Gesichter, aber ich wurde den Gedanken an die Massen nicht los, die ich kurz vor der Pürischen Nacht gesehen hatte, in den Tagen, als die Hauptstadt in Aufruhr war. Ich fürchtete, dass diese ruhigen Gesichter nur Masken waren, hinter denen sich blutige Fratzen mit irren Augen und aufgerissenen Mündern verbargen.
Viktor Heidekirch spielte auf seiner Ziehharmonika die Lieder, die wir kannten, und der Duft von Gebratenem und Gegrilltem, Krapfen, Waffeln und Speck, mischte sich in der warmen, milden Luft dieses Spätnachmittags mit den zarteren Düften des Heus, das auf den Weiden um das Dorf herum zum Trocknen lag. Poupchette war begeistert und klatschte zu Heidkirchs Melodien in die Hände. Emélia war mit Fédorine zu Hause geblieben. Die Sonne hatte es nicht besonders eilig, hinter den Gipfeln der Hörni zu verschwinden. Fast sah es so aus, als ob sie sich Zeit ließe und den Tag etwas in die Länge zöge, weil sie auch mitfeiern wollte.
Jetzt sollte das Fest beginnen. Eine Woge ging mit einem Mal durch die Menschenmenge. Viktor Heidkirch, dem man wohl ein Zeichen gegeben hatte, setzte sein Akkordeon ab. Noch hörte man vereinzelte Stimmen, Gelächter, Rufe, aber sie verebbten, bis es vollkommen still geworden war. Da bemerkte ich, dass es plötzlich nach Hühnerstall roch. Göbbler stand nur zwei Schritte von mir entfernt. Zum Gruß hob er sein merkwürdiges strohgeflochtenes Béret:
«Willst du das Spektakel auch sehen, Nachbar?»
«Welches Spektakel?», fragte ich.
Göbbler deutete auf das Geschehen ringsum und kicherte hämisch. Ich entgegnete nichts. Poupchette zog an meinen Haaren, «schwarze Locken, mein Papa! Schwarze Locken!». Rechts von mir entstand plötzlich Bewegung, Schritte waren zu hören, und die Menge teilte sich. Dann sah ich Orschwirs grobschlächtige Gestalt und neben ihm einen Hut, eine schwarze, glänzende Melone, die wir in den vergangenen zwei Wochen gut kennengelernt hatten und die wie von selbst in der Luft zu schweben schien. Der Bürgermeister erreichte die Bühne, stieg, ohne eine Sekunde zu zögern, hinauf und bat, oben angekommen, den Mann, von dem man bisher nur den Hut gesehen hatte, mit einer feierlichen Geste zu sich hinauf.
Vorsichtig stieg der Andere die Treppe zur Bühne hinauf. Unter seinem Gewicht knackte das frische Holz. Die Bühne war nicht viel höher als der Hallenboden, und die Leiter, die der Zungfrost zusammengezimmert hatte, hatte nur sechs Stufen, aber so langsam und mühselig, wie der Andere sich hinaufquälte, sah es fast aus, als erklimme er die höchste Spitze der Hörni. Als er endlich neben dem Bürgermeister stand, gab die Menge einen überraschten Laut von sich, denn, auch das muss erwähnt werden, viele der Anwesenden sahen den Mann, von dem sie schon viel gehört hatten, heute zum ersten Mal leibhaftig vor sich. Die Bühne war weder sehr breit noch besonders tief. Der Zungfrost hatte sie nach Augenmaß gebaut und dabei wahrscheinlich seinen eigenen spindeldürren Körper vor Augen gehabt. Aber Orschwir ist ein großer, schwerer Mann, fast ein Riese, und auch der Andere war rund und wohlgenährt.
Der Bürgermeister war im großen Ornat erschienen, das er nur dreimal im Jahr zu den wichtigen Anlässen trägt – Dorffest, Kirmes am Matthäustag und Allerheiligen. Er trug dazu einfach über seiner Alltagskleidung eine grüne Jacke, die vorne mit Posamenten verziert war. Will man bei uns leben, dann tut man gut daran, sich anzupassen, nicht
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