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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Leichen, Schutt und Feuern in den Ruinen herumirrte und nicht wusste, ob alles ein Albtraum war, der einfach nicht enden wollte, oder ob er wirklich in dieser grausamen Zeit lebte, die mit ihm zu spielen schien wie die Katze mit der Maus. Und während ich an dieses frühere Leben zurückdachte, sah ich die Zeichnung vor mir, die ich in Dr.   Messners Buch betrachtet hatte – die Rauchfahnen, die Ratten, das Kind, die schwarzgekleideten Männer, den Leichenberg. Es war, als sähe ich nun alles gleichzeitig vor mir – die drei Toten, die Bilder meiner frühen Kindheit und die Zeichnung. Ich taumelte und wäre beinahe gestürzt, aber dann hörte ich jemanden rufen, hörte eine schwache Stimme, brüchig wie die Glasscherben, die überall herumlagen.
    Ein alter Mann hockte nur ein paar Schritte weiter in einem Hauseingang. Er war mager, und sein langer weißer Bart machte sein Gesicht noch schmaler. Zitternd streckte er einen Arm nach mir aus. Ich eilte zu ihm und wollte ihm aufhelfen, während er in der alten Sprache, die auch Fédorines Sprache ist, immer wieder dasselbe sagte: «Verrückt, verrückt, sie sind verrückt geworden …»
    «Wo wohnen Sie? In dieser Straße?»
    Er blickte mich einen Augenblick lang an, aber offenbar verstand er meine Frage nicht, denn er begann wieder mit seiner Litanei. Seine Kleidung war zerrissen, seine linke Hand war blutig, sie sah aus, als wäre sie gebrochen. Ich fasste ihn um die Taille, um ihm auf die Beine zu helfen, aber kaum stand er, an die Wand hinter ihm gelehnt, da hörte ich hinter uns laute Stimmen.
    «Die zappeln ja immer noch! Und schämen sich nicht. Und unser Ruppach liegt im Sarg!»
    Drei Gestalten kamen auf uns zu. Jede hatte einen langen Stock in der Hand und trug so etwas wie einen schwarzen Trauerflor um den linken Arm, auf dem die Initialen W. R. zu erkennen waren. Sie redeten laut und lachten. Eines der Gesichter, die unter dem Visier der Helme kaum zu erkennen waren, kam mir bekannt vor, aber vor Angst konnte ich nicht mehr klar denken. Ich dachte, sie wären betrunken, aber sie rochen nicht nach Alkohol. Auch Wut und Hass können den Menschen die Sinne vernebeln. Diese Gefühle sind stärker als der stärkste Schnaps. Später, im Lager, sollte sich dieser Gedanke noch unzählige Male bestätigen.
    Der Alte redete immer noch vor sich hin. Ich glaube übrigens, dass er die Ankunft der Männer gar nicht bemerkt hatte. Einer der drei setzte ihm die Spitze seines Stocks auf die Brust:
    «Sprich mir nach: Ich bin ein Scheißfremder . Los, mach schon!»
    Aber der alte Mann sah und hörte ihn nicht.
    «Ich glaube, er versteht Sie nicht, er ist verletzt …»
    Kaum waren mir diese Worte herausgerutscht, bedauerte ich sie schon. Denn jetzt stieß der Stock gegen meine Brust.
    «Du hast was gesagt? Du wagst es, mir etwas zu sagen? Wer bist du denn, du Wanze? Du stinkst wie ein Fremder !» Er hieb mir den Stock in die Seite, dass mir die Luft wegblieb. Da mischte sich sein Kamerad ein:
    «Lass, den kenn ich. Der heißt Brodeck.»
    Er trat jetzt ganz dicht zu mir heran, und da erkannte ich ihn. Er war ein Student im dritten Studienjahr, der, wie ich, häufig in der Bibliothek saß. Ich kannte seinen Namen nicht und erinnerte mich nur, dass er oft in astronomischen Abhandlungen gelesen und viel Zeit mit der Betrachtung von Himmelskarten verbracht hatte.
    «Brodeck, Brodeck …», fing der andere wieder an, der wohl der Anführer war, «so kann auch nur ein Fremder heißen! Schaut euch doch die Nase dieser Missgeburt an! An ihrer Nase kann man sie erkennen. Und an den großen Augen, den Glubschaugen, die ihnen fast aus dem Kopf fallen. Weil sie gierig sind und alles an sich raffen wollen!»
    Er bohrte weiter seinen Stock in meine Rippen, wie man es bei einem störrischen Rind tut.
    «Lass ihn in Ruhe, Felix! Kümmern wir uns lieber um den Alten, denn der gehört sicher zu dem Gesindel. Sein Laden ist da drüben, ich kenne ihn! Ein Dieb, ein Wucherer, der immer fetter wird!»
    Da meldete sich der Dritte zu Wort, der bisher noch gar nichts gesagt hatte:
    «Er gehört mir! Ich bin dran! Ihr habt jeder schon zwei verdroschen!»
    Bisher hatte er sich im Hintergrund gehalten, aber jetzt kam er näher, und ich sah ein Kind von vielleicht dreizehn Jahren, ein Kind mit zarter, frischer Haut und Zähnen, die im Dunkeln leuchteten. Es grinste wie ein Irrer.
    «Da schau mal an, der kleine Ullrich will auch seinen Spaß haben! Aber du bist noch ein bisschen zu klein, Brüderchen,

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