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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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besonderes Unbehagen bereitete. Es zeigte eine ärmliche, enge Straße in einer beliebigen Stadt. Das Pflaster war holprig, und die Haustüren standen weit offen. Dicke schwarze Ratten mit struppigem Fell und gebleckten Zähnen flüchteten aus den Häusern, während drei Männer in knöchellangen Umhängen, die Gesichter unter spitzen Kapuzen verborgen, steife Leichen auf die Ladefläche eines Leiterwagens warfen. Im Hintergrund zog Rauch über den Horizont, und vorne im Bild saß ein zerlumptes Kind auf dem Rinnstein und verbarg das Gesicht in den Händen, als wollte es dem Geschehen entkommen. Keiner der drei Männer beachtete das Kind, denn es war nur ein weiteres Wesen, das der Tod ereilen würde. Allein eine Ratte saß auf den Hinterbeinen und schien das Kind boshaft und spöttisch zu mustern. Ich habe das Bild lange betrachtet und mich gefragt, was der Zeichner mit dem Bild wohl hatte bezwecken wollen und warum der Arzt es in sein Buch aufgenommen hatte.
    Gegen vier Uhr nachmittags wurde es plötzlich dunkel. Der Himmel stand voller Wolken, aus denen erster Schnee auf die Stadt fiel. Ich öffnete ein Fenster der Bibliothek. Dicke Flocken legten sich auf meine Wangen und schmolzen. Ich sah schemenhafte Gestalten auf den Bürgersteigen, doch alles sah aus wie immer. Ich nahm meine Jacke und verließ die Universität. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich sie nie wieder betreten würde.
    Um zu meinem Zimmer zurückzugelangen, musste ich über den Salzwach-Platz, durch die Sibelius-Vo-Recht-Straße und das Kolesch-Viertel, den ältesten Teil der Stadt, ein Netz enger Gassen mit zahllosen kleinen Läden und Auslagen. Zum Schluss musste ich noch am Wilhempark und an den düsteren Gebäuden mit den Thermen vorbei. Ich ging schnell und hob kaum den Kopf. Einsame Gestalten begegneten mir, auch sie hoben nicht den Blick, und ich sah auch einige Betrunkene, die sich lautstark unterhielten und lachten.
    Auf dem Salzwach-Platz und der Sibelius-Vo-Recht-Straße blieb der Schnee bereits liegen, und die dunklen Fußabdrücke der wenigen Passanten sahen aus wie Insektenstraßen. Hier sah es aus, als wäre nichts geschehen, als ginge ein gewöhnlicher Montag zu Ende, als hätten die Straßen sich allein wegen des schlechten Wetters, der Kälte und der vorzeitig hereinbrechenden Dunkelheit schon zu früher Stunde geleert.
    Aber im Straßenlabyrinth des Kolesch-Viertels merkte man schnell, dass dieser Eindruck trog. Ich erschrak, als das gesplitterte Glas unter meinen Schritten knirschte. Überall in der Gasse, in die ich eingebogen war, glitzerten unzählige, mancherorts von Schneeflocken bedeckte Glasscherben. Mir kam der Gedanke, hier seien Edelsteine in Hülle und Fülle verstreut worden. Alles schimmerte, wie das zauberhafte Bühnenbild für ein Märchenstück, dessen Handlung noch nicht bekannt war, in dem aber mit Sicherheit eine Prinzessin vorkommen würde. Aber diese Illusion löste sich in Luft auf, als ich mich umsah: Die zerstörten Schaufenster, die Geschäfte waren verwüstet, Fässer, aus denen eingelegte Heringe, Trockenfleisch, saure Gurken und Wein quollen, die geplünderten Marktstände, deren Ware überall verstreut herumlag. Neben dem Knirschen meiner Schritte war ein Klagen und ein Weinen zu hören, aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Dann aber bemerkte ich, dass vor einer kleinen Schneiderei drei Leichen lagen, ihre Gesichter waren blau angelaufen, sie waren zu Tode geprügelt worden. Auf der Tür, die nur noch durch eine einzige Angel im Rahmen gehalten wurde, stand: Dreckige Fremde – das zweideutige Wort «Fremder» kann auch «Verräter» und in einem volkstümlichen Sprachgebrauch auch «Abschaum» bedeuten. Dreckige Fremde stand da, mit roter Farbe hingeschmiert, und die Farbe war die Wand hinuntergeronnen wie Blut. Stoffballen lagen übereinandergeworfen da, und irgendjemand hatte versucht, sie anzuzünden. Einige Scherben hielten noch im Fensterrahmen und bildeten einen Stern mit vielen Zacken.
    Immer wieder sah man seit einer gewissen Zeit schon die Worte an die Wand geschmiert: Dreckige Fremde oder Rache für Ruppach . Ich konnte meinen Blick nicht von den drei Leichen wenden. Mir schwindelte, und beim Anblick der Toten kehrten meine verworrenen Erinnerungen an andere Tote, andere Leichen wieder, Tote mit seltsam verrenkten Gliedmaßen, wie kaputte Hampelmänner, deren Gesichter nichts Menschliches mehr hatten. Ich war wieder der verlassene kleine Junge, der zwischen

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