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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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aufzufallen, schlicht wie ein unbehauener Granitblock, der aus einer flachen Hochweide herausragt. Das hat Orschwir schon lange verstanden. Er gibt nichts auf Prunk.
    Bei dem Anderen aber war es offensichtlich nicht so. Er kam aus einer fremden Welt, er kam nicht von hier und kannte sich mit unseren Bräuchen und unserer Denkungsart nicht aus. Vielleicht hätten wir uns weniger von ihm gestört gefühlt, wenn er sich nicht immer mit Schleifen, Parfum und Pomade herausgeputzt hätte. Hätte er grobes Tuch, Samt und einen alten Wollmantel getragen, wäre er hier nicht besonders aufgefallen. Das Dorf hätte ihn auch dann erst nach mindestens fünf Generationen aufgenommen, aber wenigstens hätte man ihn geduldet, wie man auch streunende Katzen und Hunde duldet, die von irgendwoher, wahrscheinlich aus dem Wald, bei uns auftauchen und auf leisen Pfoten durch die Straßen huschen.
    Aber der Andere war ganz das Gegenteil, besonders an jenem Tag: weißes Jabot, das zwischen den Revers aus schwarzem Satin hervorquoll, Uhrkette, Schlüssel, dazu diverser vergoldeter Krimskrams, der über seinem Bauch baumelte, leuchtende Manschetten und farblich abgestimmte Manschettenknöpfe, dunkelblauer Gehrock, geflochtener Gürtel, Hose mit feinen Litzen, dunkelrote Gamaschen, gewichste Schuhe und nicht zu vergessen die Schminke auf den Wangen, die rund waren wie Äpfelchen, der schimmernde Schnurrbart, die gekämmten Koteletten und die roten Lippen.
    Er und der Bürgermeister standen eng beieinander auf dem kleinen Podest, ein komisches Paar, das eher in den Zirkus passte als auf einen Dorfplatz. Der Andere lächelte. Er hatte seinen Hut abgesetzt und hielt ihn in den Händen. Er lächelte vor sich hin und sah niemanden an. Um mich herum fing das Geflüster wieder an:
    « Herrschaftszeiten! Was ist denn das für einer?»
    «Er sieht aus wie ein Clown?»
    «Ja, was für ein Narr!»
    «Vielleicht ist das modern, da, wo er herkommt!»
    «Er ist verrückt, jawohl!»
    «Halt den Mund, jetzt spricht der Bürgermeister.»
    «Soll er doch quatschen, wir können den komischen Vogel doch trotzdem bewundern!»
    Umständlich hatte Orschwir zwei mehrfach gefaltete Blätter aus der Tasche gezogen. Er strich sie glatt, während er seine Fassung wiedererlangen wollte, denn man spürte genau, dass er verlegen war und sich offenbar nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte. Er hielt eine bemerkenswerte Rede, die ich vollständig wiedergeben werde. Natürlich habe ich sie nicht wörtlich im Kopf behalten, ich habe mir vor einigen Tagen das Manuskript besorgt, denn ich weiß, dass Orschwir von Amts wegen alles aufbewahrt.
    «Was willst du damit?»
    «Ich brauche sie für den Bericht.»
    «Warum willst du in der Vergangenheit graben? Das muss doch nicht sein.»
    Dabei sah er mich an, als traue er mir nicht recht über den Weg.
    «Ich habe nur gedacht, ich sollte darstellen, wie wohlwollend er im Dorf aufgenommen wurde.»
    Orschwir schob das Rechnungsbuch beiseite, das vor ihm auf dem Tisch lag, und nahm den Krug und die beiden Gläser, die die Keinauge ihm reichte, schenkte uns Bier ein und schob mir ein Glas hin. Ich konnte sehen, dass meine Bitte ihn ärgerte. Er zögerte, sagte aber schließlich doch:
    «Wenn du glaubst, dass es uns nützen kann, dann bitte.»
    Er nahm ein Stück Papier, notierte langsam einige Worte darauf und reichte es mir.
    «Geh zum Rathaus und gib das Hausorn, er wird dir die Rede aushändigen.»
    «Hast du die Rede selbst geschrieben?»
    Orschwir stellte sein Bierglas zurück auf den Tisch und sah mich zugleich verstimmt und ein wenig mitleidig an. Dann sagte er zu der Keinauge in einem sanften Ton, den ich von ihm noch nie gehört hatte:
    «Lass uns allein, Lise, bitte.»
    Das blinde Mädchen nickte flüchtig und schloss die Tür hinter sich. Orschwir sprach weiter:
    «Du siehst doch dieses Kind, nicht wahr, Brodeck. Ihre Augen sind tot, sie kam mit zwei blinden Augen auf die Welt. Nichts von allem, was du um dich herum sehen kannst, kann sie sehen – die Anrichte, die Wanduhr, den Schrank, den mein Urgroßvater selbst gebaut hat, den Tämmeringen-Wald, den man da durch das Fenster sieht. Wahrscheinlich weiß sie, dass es das alles gibt, denn sie hört und riecht die Dinge, aber sehen kann sie die Welt nicht. Da hilft kein Bitten. Also bittet sie erst gar nicht darum. Sie verliert mit dieser Bitte keine Zeit, weil sie weiß, dass niemand sie erfüllen kann.»
    Er hielt inne und trank einen großen Schluck Bier.
    «Du solltest

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