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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Fliege etwas zuleide tat, zum Handlanger eines Systems geworden war, das die Menschen zermalmte und demütigte, sodass selbst eine Kellerassel ein würdiges Leben führte.
    Das Lager war so riesig, dass ich den Mann, der Ulli Rätte hätte sein können, nie wieder gesehen und auch sein Lachen nie mehr gehört habe. Vielleicht hatte die Szene an jenem eisigen Morgen doch nur in einem meiner vielen Albträume stattgefunden? Und dennoch suchte ich an jenem Tag, als wir befreit wurden, sämtliche Gassen ab, in denen sich die Leichen der Gefangenen und einiger Aufseher türmten. Ich habe sie mir genau angesehen, sie umgedreht, vielleicht weil ich dachte, ich würde Ulli Rättes Leichnam finden, aber ich entdeckte ihn nirgends. Ich habe nur die Leiche der Seelenfresserin gefunden und konnte meinen Blick lange nicht abwenden, so wie man gebannt in eine tiefe Schlucht blickt.
    Nachdem ich Ulli am Tag nach der später so benannten Pürischen Nacht den Abschiedsbrief in die Brusttasche gesteckt hatte, eilte ich zu Emélia. Ruhig stickend saß sie am Fenster ihres Zimmers. Ihre Freundin Gudrun Osterick saß auch an ihrer Handarbeit. Beide sahen mich erstaunt an. Seit zwei Tagen waren sie nicht auf die Straße gegangen, darum hatte ich sie gebeten. Sie hatten pausenlos gearbeitet, um rechtzeitig mit einer umfangreichen Bestellung fertig zu werden, einem großen Tischtuch, das für die Aussteuer einer Braut bestimmt war. Viele hundert kleine Lilien und große Sterne hatten Emélia und ihre Freundin auf das weiße Leinentuch gestickt, und beim Anblick dieser Sterne spürte ich, wie müde ich in Wirklichkeit war. Die beiden Frauen hatten zwar den Lärm, das Gebrüll und die Schreie der Menschenmassen gehört, aber sie wohnten weit weg vom Kolesch-Viertel, wo es die meisten Plünderungen und Morde gegeben hatte. Was genau passiert war, wussten sie nicht.
    Ich nahm Emélia in den Arm und drückte sie fest. Ich sagte ihr, ich ginge fort und würde niemals zurückkehren, aber vor allem sagte ich ihr, ich sei gekommen, sie abzuholen, sie mitzunehmen nach Hause in mein Dorf. Da seien wir in Sicherheit, es gebe dort hohe Berge, und ich wünsche mir, sagte ich ihr, dass sie mich dort, wo Gipfel, Weiden und Wälder uns beschützten, heiraten würde.
    Ich merkte, dass sie in meinem Arm erbebte, sie zitterte wie ein Vögelchen, und als ich ihren Körper spürte, schöpfte ich neue Lebenskraft. Sie wandte mir ihr schönes Gesicht zu und küsste mich lange.
    Nur eine Stunde später verließen wir die Stadt. Wir gingen schnell und hielten uns an den Händen. Und wir waren nicht die Einzigen. Männer, Frauen, ganze Familien, Kinder und Greise flohen wie wir. Einige trugen Koffer, die manchmal so vollgestopft waren, dass sie nicht richtig schlossen und die Wäsche an den Seiten noch heraushing, andere schoben Karren, auf denen sich Kisten stapelten, oder sie trugen hastig geschnürte Bündel. Alle sahen ernst aus, ihre Blicke waren ängstlich. Keiner sprach, und alle gingen so schnell, als wollten sie das, was sie hinter sich ließen, so schnell wie möglich vergessen.
    Aber wer verjagte uns eigentlich aus der Stadt? Waren es die anderen, oder war es einfach der Lauf der Dinge? Ich bin ein kräftiger, immer noch junger Mann, aber wenn ich an mein Leben zurückdenke, dann kommt es mir manchmal vor, als wäre ein Gefäß zum Überlaufen gebracht worden. Ist das bei allen Menschen so, oder wurde ausgerechnet ich in einer Zeit geboren, die leichtfertig mit dem Leben der Menschen spielt?
    Ich habe nie viel vom Leben erwartet. Am liebsten hätte ich mein Dorf nie verlassen. Unsere Berge, Wälder und Flüsse hätten mir genügt. Allzu gern hätte ich mich vom Geschrei der Welt ferngehalten, aber um mich herum lebten Völker, die beschlossen hatten, sich gegenseitig zu vernichten. Ganze Länder sind untergegangen und jetzt nur noch Namen in den Geschichtsbüchern. Sie sind übereinander hergefallen, haben geplündert, vergewaltigt und zerstört. Und nicht immer hat die Gerechtigkeit die Niedertracht besiegt.
    Warum musste gerade ich wie viele meiner Zeitgenossen dieses Kreuz tragen, das zu schwer ist für meine schmalen Schultern, warum musste ich einen Leidensweg gehen, den ich nicht selbst gewählt hatte? Wer hat meine bescheidene Ruhe gestört, meine graue Existenz ans Licht gezerrt? War es Gott? Dann sollte er, falls es ihn wirklich gibt, lieber in Deckung gehen. Er sollte sich schön ducken. Mag sein, dass es stimmt, was der Pfarrer Peiper uns

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