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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Körper und schlief schnell ein. Ich dachte nicht mehr an Diodèmes Brief. Seltsamerweise fühlte sich meine Seele leicht und mein Körper schwer an, schwer vor Müdigkeit – und weil ein Knoten sich gelöst hatte. Wie ein Kind glitt ich glücklich in tiefen Schlaf. Ich träumte, aber nicht die üblichen quälenden Träume, ich stand nicht wie sonst am Abgrund des Kazerskwir , nein, in dieser Nacht waren meine Träume friedlich.
    Ich sah den Studenten Kelmar wieder. Er war quicklebendig und trug sein schönes, besticktes weißes Leinenhemd. Es war makellos sauber und brachte sein gebräuntes Gesicht und seinen zarten Hals besonders gut zur Geltung. Wir waren nicht auf dem Weg ins Lager, nicht in dem Waggon, wo wir so viele Tage und Nächte zusammengepfercht verbracht hatten. Wir waren an einem Ort, der wie kein anderer war, den ich kannte. Ich hätte noch nicht einmal sagen können, ob wir uns in einem Haus oder im Freien befanden. Ich hatte Kelmar noch nie so gesehen. Sein Gesicht war unversehrt, nicht von den Schlägen gezeichnet, seine Wangen waren rosig und rasiert, seine Kleidung rochfrisch. Er lächelte und sprach zu mir, er sprach lange, und ich hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann stand er plötzlich auf, und ich verstand, dass er gehen musste. Er sah mich lächelnd an, und die letzten Worte, die wir sprachen, sind mir noch deutlich in Erinnerung:
    «Ich hätte stehenbleiben sollen wie du, Kelmar. Nach dem, was wir im Waggon getan haben, hätte ich nicht weitergehen dürfen, ich hätte stehenbleiben müssen.»
    «Du hast getan, was du für richtig hieltest, Brodeck.»
    «Nein, du hattest recht. Wir hatten den Tod verdient. Ich war zu feige.»
    «Ich weiß nicht, ob ich recht hatte. Der Tod eines Menschen kann nicht durch das Opfer eines anderen gerächt werden. Das wäre zu einfach. Und außerdem steht dir kein Urteil darüber zu. Und mir auch nicht. Kein Mensch kann über einen anderen urteilen. Das dürfen wir nicht.»
    «Kelmar, was glaubst du, ist es jetzt Zeit, dass ich zu dir komme?»
    «Bleib auf der anderen Seite, Brodeck. Noch ist dein Platz dort.»
    Das sind die letzten Worte, an die ich mich erinnere. Ich wollte zu ihm gehen, ihn umarmen und festhalten, aber meine Arme griffen ins Leere.
    Ich glaube nicht, dass Träume die Zukunft vorhersagen, wie manche Leute behaupten. Ich glaube aber, dass sie ganz einfach im rechten Moment kommen und uns in der Dunkelheit der Nacht das sagen, was wir uns am Tage womöglich nicht eingestehen können.
    Ich werde Diodèmes Brief nicht wörtlich wiedergeben. Außerdem habe ich ihn nicht mehr. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer ihm das Schreiben gefallen sein muss.
    Ich bin nicht freiwillig ins Lager gegangen. Drei Monate nach Kriegsbeginn und eine knappe Woche nachdem die Fratergekeime unser Dorf besetzt hatten, hat man mich verhaftet und verschleppt. Isoliert wie wir lebten, ahnten wir nichts. Die Berge schützen uns zwar vor dem Lärm der Welt, aber so bekommen wir auch nicht viel mit.
    Eines Morgens sahen wir sie kommen, eine Kolonne, die schnell auf der Straße von der Grenze her Richtung Dorf marschierte. Niemand versuchte, sie zu stoppen, weil das sowieso nutzlos gewesen wäre und weil der Tod der Orschwir-Söhne uns allen zugesetzt hatte, sodass wir weitere Tote unbedingt vermeiden wollten.
    Eines sollte man zum besseren Verständnis unbedingt wissen: Diese Männer, die mit ihren Helmen und Waffen bei uns einfielen, waren siegessicher, weil sie spektakuläre Siege über sämtliche gegnerischen Truppen errungen hatten. Und obwohl sie aus einem anderen Land kamen, waren sie den Bewohnern unserer Gegend sehr ähnlich. Die Menschen hier fühlten sich im Grunde ihrem Vaterland nicht zugehörig. Das Vaterland war für sie wie eine Frau, die sich von Zeit zu Zeit mit einem zärtlichen Brief oder einer kleinen Bitte in Erinnerung rief, deren Antlitz sie aber nie zu Gesicht bekamen. Diese Soldaten, die als Sieger bei uns eintrafen, hatten die gleichen Bräuche wie wir und sprachen eine Sprache, die der unseren so ähnlich war, dass wir uns kaum anstrengen mussten, wenn wir sie verstehen wollten. Die viele hundert Jahre zurückreichende Geschichte unserer Gegend hing mit der Geschichte unseres Nachbarlandes eng zusammen. Wir hatten gemeinsame Legenden, Dichter, Lieder, Tänze, bereiteten Fleisch und Suppen auf ähnliche Weise zu, neigten zur Melancholie und teilten einen Hang zur Trunksucht. Grenzen sind doch nichts weiter als mit Bleistift gezogene

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