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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Hauptmann gesagt hat, war eine Drohung. Er hat gesagt, wir müssten das Dorf säubern .»
    «Ja und, was schlägst du jetzt vor? Sollen wir die Straßen mit Wasser und Seife schrubben?»
    «Das ist nicht zum Lachen, Brodeck! Glaubst du denn, dass sie Witze machen? Er hat das nicht nur so dahingesagt! Er hat den armen Cathor Fremder genannt …»
    «Das sagen sie doch zu allen Leuten, die ihnen nicht passen, sie nennen sie Fremde und meinen damit Gesindel. In der Pürischen Nacht habe ich gesehen, wie sie das Wort an die Türen der Leute geschmiert haben.»
    «Aber du weißt genau, dass damit auch Ausländer gemeint sind!»
    «Cathor ist kein Ausländer, seine Familie lebt schon immer im Dorf.»
    Diodème lockerte seinen Hemdkragen, der ihm mit einem Mal zu eng schien. Mit dem Handrücken wischte er sich die schweißnasse Stirn ab, warf mir einen ängstlichen Blick zu, sah auf seine Tasse hinunter, trank einen Schluck, sah mich wieder verstohlen an, senkte den Blick wieder und sagte dann beinahe flüsternd:
    «Aber du, Brodeck … was ist mit dir?»

31
    Ich weiß, dass die Angst einen Menschen verändern kann.
    Früher habe ich das nicht gewusst, aber seit ich im Lager war, bin ich mir sicher, dass es so ist. Ich habe gesehen, wie Menschen schrien, die Köpfe gegen Steinmauern schlugen, sich in rasiermesserscharfe Stacheldrähte warfen. Ich habe gesehen, wie sie in die Hosen machten, sich vollständig entleerten, alles erbrachen, alles von sich gaben, was sie in sich hatten. Einige habe ich beten, andere den Namen Gottes leugnen und verfluchen gehört. Ich habe sogar gesehen, wie ein Mann vor Angst starb. Wie er starb, als er eines Morgens bei dem Spielchen, das die Aufseher mit uns trieben, zum nächsten Todeskandidaten bestimmt wurde. Als der Aufseher vor ihm stehenblieb und lachend «Du!» rief, zeigte der Mann keine Regung, sein Gesicht verriet kein Gefühl, keinen Gedanken. Und als das Lachen des Aufsehers langsam erstarb und er seinen Stock hob, fiel der Mann um, er fiel tot um, bevor der andere ihn überhaupt berührt hatte.
    Im Lager hatte ich noch eine Lektion gelernt: Der Mensch ist groß, aber er ist sich selbst nicht gewachsen. Das liegt in unserer Natur. Während meines langen Lebens, als ich Sprosse für Sprosse immer tiefer in den schwindelerregenden Kazerskwir hinabstieg, habe ich schließlich die Motive meiner Henker und derjenigen, die mich ihnen ausgeliefert hatten, erkannt. Und da schien mir die Möglichkeit des Verzeihens auf.
    Nicht weil sie mich hassten, sondern weil sie Angst hatten, war ich zum Opfer geworden. Weil gewissen Leuten die Angst im Nacken gesessen hatte, war ich den Henkern ausgeliefert worden, und auch diese Henker, Männer, die einst gewesen waren wie ich, hatte die Angst zu solchen Ungeheuern gemacht und den Keim des Bösen, den sie, wie wir alle, in sich trugen, sprießen lassen.
    Wahrscheinlich hatte ich nicht verstanden, welche Folgen Alois Cathors Hinrichtung haben würde. Wie schrecklich und grausam die Tat gewesen war, das hatte ich verstanden. Aber ich hatte nicht bedacht, dass das Bild des geköpften Cathor und Hauptmann Bullers Drohungen den Menschen nicht mehr aus dem Kopf gehen würden. Und das würde wiederum dazu führen, dass ich das nächste Opfer wäre. Cathors Leiche wurde nicht begraben, und die Angst wuchs. Sein Kopf lag auf dem Dorfplatz einige Meter vom Körper entfernt in der Sonne, die über allem schien, und zahllose winzige Insekten, die im August morgens geboren werden und abends sterben, umschwärmten ihr ganzes kurzes Leben lang surrend den verwesenden Leichnam.
    Über dem ganzen Dorf hing der widerliche Gestank. Fast schien es, als sei der Wind mit Buller im Bunde. Er wehte auf den Kirchplatz, nahm den Leichengestank auf und blies ihn in jede Straße, kroch unter den Türen hindurch ins Innere der Häuser, durch die schlecht schließenden Fenster, zwischen den schiefen Ziegeln hindurch und erzählte immer und immer wieder die Geschichte von Cathors Tod.
    Währenddessen benahmen die Soldaten sich äußerst zuvorkommend und korrekt, als ob nichts gewesen wäre. Es gab keine Plünderungen, keine Anmaßungen, keine weiteren Vorkommnisse. Was sie in den Geschäften nahmen, bezahlten sie. Sie hoben ihr Käppi, wenn sie einer Frau oder einem Mädchen begegneten, hackten Holz für die alten Witwen, scherzten mit den Kindern, die allerdings meist ängstlich vor ihnen davonrannten. Sie grüßten den Bürgermeister, den Pfarrer und Diodème.
    Jeden Morgen

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