Brodecks Bericht (German Edition)
öffnete. Sie war schon im Nachthemd und lächelte, als sie mich erkannte. Im Gegenlicht sah ich die Konturen ihrer breiten Hüften und riesigen Brüste. Ihr Haar war offen.
«Guten Abend, Brodeck», sagte sie und leckte sich einige Male über die Lippen.
«Ich will zu deinem Mann!»
«Geht es dir nicht gut, bist du krank?»
Ich schrie seinen Namen so laut, dass sich meine Stimme überschlug. Immer wieder schrie ich. Im ersten Stockwerk bewegte sich etwas, und kurz danach tauchte Göbbler auf. Er hielt eine Kerze in der Hand und trug eine Nachtmütze auf dem Kopf.
«Was ist denn los, Brodeck?»
«Was los ist?! Warum hast du meinen Schuppen durchsucht? Warum hast du die Schublade aufgebrochen?»
«Ich kann dir versichern, dass ich nicht …»
«Du sollst mich nicht für dumm verkaufen! Ich weiß, dass du es gewesen bist! Haben die anderen dir gesagt, du sollst mir hinterherspionieren? Die Spuren führen zu dir!»
«Die Spuren? Welche Spuren denn? Willst du nicht reinkommen, Brodeck … willst du einen Tee, ich glaube, du bist …»
«Mach das nie wieder, Göbbler, ich schwöre dir, sonst …»
«Sonst was?»
Er war näher gekommen. Sein Gesicht war jetzt ganz dicht vor meinem. Durch den weißen Schleier hindurch, hinter dem seine Augen langsam ganz verschwinden, versuchte er, mich zu sehen.
«Sei vernünftig, es ist dunkel, ich rate dir, geh schlafen … Das will ich dir raten …»
Plötzlich machten Göbblers Augen mir Angst. Sie hatten nichts Menschliches mehr, sie waren wie aus Eis. Mit elf Jahren habe ich einmal solche Augen gesehen, als ein paar Männer aus dem Dorf auszogen, um nach zwei Förstern aus Froxheim zu suchen, die unterhalb des Steilhangs am Schnikelkopf von einer Lawine erfasst worden waren. Sie trugen die Leichen der Männer in Leintüchern, die sie zwischen lange Stangen gespannt hatten, vom Berg herunter, und ich sah sie in der Nähe unserer Hütte vorbeigehen, als ich zum Brunnen wollte, um Wasser zu schöpfen. Der Arm des einen Mannes baumelte aus dem Tuch heraus und bewegte sich im Takt der Schritte, und ich sah auch durch einen Riss im Leintuch den Kopf des anderen. Ich sah seinen Blick, seinen starren weißen Blick, vollkommen weiß und stumpf, als bestünden seine Augen aus Schnee. Ich ließ damals vor Schreck den Krug fallen, rannte schreiend zur Hütte und warf mich in Fédorines Arme.
«Sag mir nie wieder, was ich zu tun und zu lassen habe, Göbbler.» Ich ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ich habe eine Stunde gebraucht, um den Schuppen aufzuräumen. Nichts war gestohlen worden – warum auch, es gibt nichts zu stehlen. Das, was ich hier aufschreibe, habe ich gut versteckt, niemand kann es finden. Ich halte die noch warmen Seiten in den Händen. Wenn ich sie an mein Gesicht halte, rieche ich das Papier, die Tinte, Haut. Nein, keiner wird mein Versteck finden, niemals.
Auch Diodème hatte ein Versteck, und das habe ich gerade aus Zufall gefunden, als ich nämlich versuchte, die Schreibtischschublade wieder einzusetzen. Ich drehte den Tisch um, sodass die Beine nach oben ragten, und da sah ich einen großen Briefumschlag, der unter der Holzplatte klebte, genau da, wo die Schublade sonst ist. So war der Brief nicht zu entdecken gewesen. Die Schublade war leer, aber darüber klebte an der Tischplatte der Umschlag – für niemanden sichtbar.
In ihm fand ich ganz verschiedene Dinge. Zunächst war da eine lange, aus zwei Spalten bestehende Liste: Über der einen Spalte stand: Romane, fertiggestellt , und über der anderen: Romane in Planung . Die erste Spalte enthielt fünf Titel: Das junge Mädchen am Ufer , Der verliebte Kapitän , Winterblumen , Mirnas Blumensträuße und Herzen in Erregung . Ich kenne nicht nur diese Titel, sondern auch die Romane dazu. Diodème hat sie mir vorgelesen, in seiner kleinen Wohnung, die mit Büchern, Ordnern und Papierstapeln vollgestopft ist, und dazwischen stehen überall brennende Kerzen, sodass das alles jederzeit in Flammen aufgehen konnte. Jedes Mal, wenn Diodème las, kämpfte ich gegen die Müdigkeit, aber Diodème war immer derart begeistert von seinen eigenen Geschichten, dass er es gar nicht bemerkte, wenn ich eindöste.
Als ich die Liste las, musste ich schmunzeln, denn ich erinnerte mich an die schönen Stunden, die ich mit Diodème verbracht hatte. Sein feingeschnittenes Gesicht, das aussah wie das Profil auf einer alten Münze, sah so glücklich aus, während er las. Als ich die zweite Spalte mit den Romanen in Planung
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