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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Applaus in den blauen und rosafarbenen Himmel stieg, wo die Schwalben wie betrunken kreisten. Nach und nach verebbte der Applaus, und alle warteten gespannt. Der Andere lächelte, aber wem dieses Lächeln galt: den Bauern, die in der ersten Reihe dicht gedrängt standen und nicht viel von der Rede verstanden hatten und nur darauf warteten, dass es endlich Wein und Bier gab? Oder Orschwir, der sichtlich nervöser wurde, je länger der Andere nichts sagte? Dem Himmel oder gar den Schwalben? Und immer noch hatte er kein einziges Wort gesprochen, als plötzlich heftiger Wind aufkam, ein lauer, warmer Wind, der das Vieh in den Ställen beunruhigt, sodass es wie irre gegen die Türen und Wände tritt. Der Windstoß riss das Spruchband an einem Ende ab und wirbelte die Fetzen auf, die schließlich hochstiegen in den Himmel zu den Schwalben und nicht mehr zu sehen waren. Der Wind legte sich so überraschend wieder, wie er aufgekommen war. Der Rest des Spruchbandes hing schlaff herunter. Nur noch zwei Worte standen darauf: Wir sind . Der Rest des Satzes war fortgeflogen, verschwunden, zerfetzt. Wieder stieg mir der Hühnerstallgeruch in die Nase. Göbbler war näher gekommen, er stand direkt neben mir und sagte ganz dicht an meinem Ohr:
    « Wir sind! Aber was sind wir, Brodeck … Das frage ich mich wirklich …»
    Ich gab ihm keine Antwort. Poupchette sang auf meinen Schultern. Beim Applaus hatte sie laut mitgeklatscht. Als der Wind das Spruchband mitgerissen hatte, war die Menge kurz abgelenkt gewesen, aber jetzt schwiegen wieder alle gespannt. Orschwir wartete ebenfalls, und wenn man ihn kannte, dann wusste man, dass er das Warten leid war. Das hatte vielleicht auch der Andere verstanden, denn er kam in Bewegung, strich sich mit den flachen Händen über die Wangen, legte dann vor der Brust die Handflächen aneinander, als ob er beten wollte, nickte freundlich nach rechts und links und sagte lächelnd: «Danke.» Einfach nur «Danke». Dann verbeugte er sich dreimal feierlich am Bühnenrand wie nach einer Theatervorstellung. Wir sahen uns an. Manchen stand der Mund vor Erstaunen offen. Andere blickten sich fragend an. Wieder andere zuckten die Achseln oder kratzten sich am Kopf. Dann begann einer zu klatschen, wohl um die allgemeine Verlegenheit zu überspielen. Die anderen klatschten mit, und Poupchette war wieder glücklich. «Ein Fest, mein Papa, ein Fest!»
    Und der Andere setzte seinen Hut wieder auf, stieg so langsam, wie er hinaufgeklettert war, von der Bühne hinunter und verschwand in der Menge, vor den Augen des Bürgermeisters, der dumm und reglos, mit hängenden Schultern stehenblieb, während der Fetzen, auf dem der Willkommensspruch gestanden hatte, über seine Mütze strich und die Zuhörer sich abwandten und zu den aufgebockten Tischen mit Schoppen, Gläsern, Krügen, Würsten und Brot eilten.

29
    Jemand war im Schuppen, jemand ist in den Schuppen eingebrochen! Das muss Göbbler gewesen sein! Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Das kann nur er gewesen sein! Und außerdem gibt es Spuren, Fußstapfen im Schnee, deutliche schmutzige Spuren, die zu seinem Haus hinüberführen. Er hat noch nicht einmal versucht, die Spuren zu verwischen! Sie fühlen sich so stark, sie machen keinen Hehl daraus, dass sie mir auf Schritt und Tritt folgen.
    Ich war nur eine knappe Stunde fort, weil ich drei Knäuel Wolle für Fédorine gekauft habe, in Frida Pertzers kleinem Laden, bei der es so ziemlich alles zu kaufen gibt: Borten, Nadeln, Garn, Klatsch und Tratsch, Knöpfe, Meterware. Und in dieser Zeit ist er in den Schuppen eingedrungen und hat alles durchwühlt. Alles liegt drunter und drüber! Er hat alles durchsucht, die Möbel verrückt, umgekippt, und er hat noch nicht einmal versucht, wieder aufzuräumen. Und er hat die Schublade von Diodèmes Schreibtisch aufgebrochen, er hat die Schublade kaputt gemacht und auf dem Boden liegenlassen! Und was hat er gesucht? Natürlich das, was ich schreibe! Er ahnt, dass ich noch etwas anderes schreibe als den Bericht. Aber er hat nichts gefunden. Er kann nämlich nichts finden, mein Versteck ist zu gut.
    Als ich die Verwüstung eben entdeckte, war ich wütend. Ich habe nur die Fußspuren gesehen, bin ohne nachzudenken zu Göbbler hinüber gestürzt und habe laut mit beiden Handflächen an die Tür geschlagen. Es war bereits dunkel, und das ganze Dorf schlief, aber bei Göbbler brannte noch Licht, und ich wusste, dass er noch wach war. Seine Frau kam zur Tür und

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