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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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überflog, musste ich laut lachen, weil mir klar wurde, was mir alles erspart geblieben war. Diodème hatte ungefähr sechzig Romantitel aufgelistet. Die meisten klangen ähnlich rührend und süßlich. Aber zwei Titel fielen mir sofort auf, denn Diodème hatte sie mehrfach mit Bleistift unterstrichen: Der Verrat der Gerechten und Die Reue . Das Wort Reue hatte er mehrmals hintereinander notiert, mit immer größer werdenden Buchstaben, als ob seine Stimme lauter geworden wäre. Auf einem weiteren Blatt Papier hatte er einen Stammbaum seiner Familie aufgezeichnet. Dort standen die Namen seiner Eltern, Großeltern, Urgroßeltern sowie Ort und Datum ihrer Geburt. Es gab auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen und weiter entfernte Vorfahren. Aber es gab auch große Lücken, Löcher, und manche Linie endete abrupt in einem Fragezeichen. So waren einige Äste des Stammbaums übervoll, sodass sie sich fast zu biegen schienen, und andere Äste waren kahl. Was für ein eigenartiger Wald wäre das, wenn man alle unsere Stammbäume nebeneinanderstellte. Mein dünnes Pflänzchen würde wohl im Schatten der prächtigen Baumkronen stehen, den Stammbäumen großer Familien, die stolz auf ihre Jahrhunderte zurückreichende Geschichte sind. Mein Stammbaum wäre eigentlich nur ein kahler Stumpf. Über meinem Namen befänden sich nur zwei kurze, nackte Zweige. Aber vielleicht könnte ich immerhin einen Platz für Fédorine finden, so wie man ein gesundes Reis auf ein kümmerliches Pflänzchen pfropfen kann, um ihm neue Kraft zu geben.
    Außerdem befanden sich in dem Umschlag zwei abgegriffene Briefe, deren Papier schon ganz durchscheinend und entlang der Knicke schon fast zerrissen war. Der eine war ein Liebesbrief von einer Magdalena an Diodème, geschrieben lange Zeit bevor er in unser Dorf gekommen war und sich bei uns niedergelassen hatte. Der zweite war ein Abschiedsbrief, der in einfachen Worten ohne Umschweife das Ende der Liebe wie eine Tatsache feststellte, als wäre man machtlos gegen die Entscheidungen, die die Liebe trifft.
    Ich will den Inhalt dieser Briefe hier nicht wiedergeben. Sie waren nicht für mich bestimmt und sind nicht Teil meiner Geschichte. Aber während ich sie las, kam mir der Gedanke, dass Diodème vielleicht deshalb zu uns gekommen ist: Vielleicht war er wegen dieser verlorenen Liebe so weit gegangen, vielleicht hatte er sich deshalb so weit weg von zu Hause im Dorf ein neues Leben aufgebaut. Ich weiß nicht, ob er diese Kränkung je vergessen konnte und ob er sie überhaupt vergessen wollte. Manche Wunden lässt man nicht heilen.
    In meinen Händen hielt ich die Fragmente von Diodèmes Leben, kleine, wertvolle Dinge, die etwas über den Toten erzählten. Und als ich an sein, an mein, an Emélias, an Fédorines Leben dachte, und auch an das Leben des Anderen , von dem ich im Grunde fast nichts wusste und das ich mir nur vorstellte – da erschien das Dorf mir plötzlich in einem anderen Licht: Plötzlich sah ich es als den letzten Zufluchtsort für Menschen, die Dunkelheit und Leere hinter sich lassen. Ich sah es nicht als den Ort, wo man neu anfangen kann, sondern als den Ort, wo alles endet und enden muss.
    Aber noch etwas anderes war in dem großen braunen Umschlag.
    Es war noch ein Brief darin.
    Ein Brief an mich.
    Ich öffnete ihn vorsichtig, denn es ist etwas Außergewöhnliches, wenn ein Toter zu uns spricht. Diodèmes Brief begann und endete mit den gleichen Worten: «Vergib mir, Brodeck, ich bitte Dich, vergib mir.»
     
    Ich habe diesen langen Brief gelesen.
    Ja, ich habe ihn eben gelesen.
     
    Ich weiß nicht, ob ich beschreiben kann, was ich während des Lesens empfand. Übrigens weiß ich gar nicht genau, ob ich überhaupt etwas empfunden habe. Aber eins ist ganz sicher: Ich spürte keinen Schmerz. Während ich Diodèmes Brief las, der eher eine ausführliche Beichte war, habe ich keinen Schmerz gespürt, weil mir das Organ fehlt, mit dem man Schmerz spürt. Dieses Organ wurde mir im Lager entfernt und ist nicht mehr nachgewachsen.

30
    Bestimmt glaubte Diodème, ich würde ihn verachten, nachdem ich seinen Brief gelesen hätte. Er nahm wohl an, ich wäre zu solch menschlichen Regungen noch fähig. Aber er hat sich getäuscht.
    Nachdem ich gestern Abend das Versteck gefunden und alle Papiere durchgesehen hatte, die der braune Umschlag enthielt, habe ich mich zu Emélia ins Bett gelegt. Sie schlief bereits, es war schon spät. Ich rückte dicht an sie heran, schmiegte mich an ihren warmen

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