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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Linien auf einer Landkarte. Sie teilen die Welten in Gebiete ein, aber wie leicht kann man sie ausradieren.
    Die Kompanie, die unser Dorf besetzte, bestand aus etwa hundert Mann und war unter dem Kommando eines Hauptmanns namens Adolf Buller. Ich habe ihn nur flüchtig kennengelernt und erinnere mich nur noch, dass er klein und dünn war und einen Tic hatte, der sein Kinn etwa alle zwanzig Sekunden kurz zur linken Seite zucken ließ. Er ritt ein Pferd mit schlammbespritztem Fell und trennte sich nie von seiner Reitpeitsche, einer kurzen Gerte mit geflochtener Spitze. Während Orschwir und Pfarrer Peiper sich am Dorfeingang bereithielten, um die Sieger zu begrüßen und zu bitten, die Häuser und Einwohner zu verschonen, blieben sämtliche Türen und Fensterläden fest verschlossen, und alles hielt den Atem an.
    Hauptmann Buller hörte sich Orschwirs Gestammel an, ohne vom Pferd zu steigen. Neben ihm stand ein Fahnenträger mit einer Lanze, an der eine rot-weiße Standarte befestigt war. Vom nächsten Tag an wehte sie anstelle unserer Fahne auf dem Dachfirst des Rathauses. Auf der Standarte standen der Name des Regiments, Fähnlein unverwundbar , zu dem die Kompanie gehörte, sowie der Wahlspruch: Hinter uns niemand .
    Buller gab Orschwir keine Antwort, sondern zuckte nur ein paarmal mit dem Kinn, schob den Bürgermeister mit seiner Gerte vorsichtig zur Seite und ritt weiter, gefolgt von seinen Soldaten.
    Es hätte keinen gewundert, wenn er für seine Männer warme Betten und Häuser mit dicken Mauern zum Schlafen beansprucht hätte, aber dem war nicht so. Die Kompanie machte auf dem Marktplatz halt, packte mehrere große Zelte aus und hatte sie im Handumdrehen aufgestellt. Dann klopften die Soldaten an die Haustüren und konfiszierten sämtliche Waffen, meistens handelte es sich um Jagdgewehre. Immer blieben sie höflich, nie wurden sie grob. Als jedoch der Porzellanflicker Alois Cathor, der immer besonders schlau sein wollte, behauptete, er hätte keine Waffe im Haus, hielten sie ihn mit ihren Gewehren in Schach, durchwühlten seine ärmliche Bleibe von oben bis unten, bis sie schließlich seine alte Flinte fanden. Die hielten sie ihm unter die Nase. Sie packten Cathor am Schlafittchen und führten ihn Hauptmann Buller vor, der vor seinem Zelt einen Obstler trank, während seine Ordonnanz, bereit, ihm neu einzuschenken, mit der Flasche in der Hand hinter ihm stand. Cathor trug eine spöttische Miene zur Schau, Buller musterte ihn von Kopf bis Fuß, trank den Pflaumengeist in einem Zug aus, zuckte mit dem Kinn, ließ sich neu einschenken, wedelte mit seiner Reitpeitsche einen Leutnant mit zarter Haut und strohblondem Haar herbei und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Der nickte zustimmend, salutierte, entfernte sich und nahm die zwei Soldaten samt ihrem Gefangenen mit.
    Einige Stunden darauf ging ein Trommler durch die Straßen und gab bekannt: Ausnahmslos alle Einwohner sollten sich um sieben Uhr vor der Kirche einfinden, um an einer höchst wichtigen Veranstaltung teilzunehmen. Die Anwesenheit aller sei Gesetz, Verstöße würden geahndet.
    Kurz vor der besagten Uhrzeit traten die Dorfbewohner aus ihren Häusern und taten sich auf der Straße zu einer stummen Prozession zusammen. Keiner hob den Blick auch nur ein einziges Mal. Emélia und ich gingen nebeneinander und hielten uns fest an den Händen. Wir hatten Angst, alle hatten Angst. Hauptmann Buller erwartete uns, die Reitpeitsche in der Hand, auf dem Kirchenvorplatz, zwischen seinen beiden Leutnants, dem Blonden und einem untersetzten Schwarzhaarigen. Als alle sich auf dem kleinen Kirchplatz eingefunden hatten, begann er:
    «Einwohnerinnen und Einwohner, wir sind nicht hierhergekommen, um Ihr Dorf zu zerstören und zu beschmutzen. Wir zerstören und beschmutzen unser Eigentum nicht, das tun nur Wahnsinnige. Ihr Dorf hat das große Glück, von nun an zum großen Reich zu gehören. Sie sind hier zu Hause, und Ihr Zuhause ist auch unser Zuhause. Von nun an gehören wir zusammen, für eine gemeinsame, tausendjährige Zukunft. Unsere Rasse ist die älteste und reinste, und auch Sie werden dazugehören, wenn Sie sich erst der Fremden, die sich noch unter Ihnen befinden, entledigt haben. Eins ist jedoch unabdingbar: Wir müssen immer aufrichtig miteinander sein. Versuchen Sie nicht, uns zu belügen oder an der Nase herumzuführen. Einer von Ihnen hat das heute versucht. Hoffen wir, dass niemand es ihm nachtun wird.»
    Buller hatte eine zarte, fast weibliche

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