Brombeersommer: Roman (German Edition)
unterschlagen, weil er Edith ein Geschenk machen wollte. Und tatsächlich hatte er dieses Glanzstück gefunden, dem nur die linke Ecke fehlte. Der Osten aber war unversehrt,und Karl befestigte Ostpreußen an der Längswand hinter ihrem Bett, dank des vorgehängten Bettlakens unsichtbar für Tante Gertrud und andere Augen.
Als Edith am Abend beim Schlafengehen das Tuch anhob und die Landkarte entdeckte, sagte sie gar nichts. Sie stieg ins Bett, drehte sich weg von der Wand, kehrte der Karte den Rücken zu, und als Karl dazu kam, sagte sie nur: »Leg dich nach hinten, ja?« Er legte sich hinter sie und umfing sie mit beiden Armen. Sie sagte noch immer nichts, und er wusste nicht, welche Bilder sie vor sich sah, während sie sich liebten.
Bevor er einschlief, dachte er an die alte Backsteinkirche in Neuhausen, wo er Edith zum ersten Mal begegnet war. Eigentlich hatte er am Anfang nur ihre dunklen Korkenzieherlocken gesehen, denn Edith saß oben auf der Empore und spielte Orgel. Er hatte sich in eine Kirchenbank gesetzt, der einzige Besucher im Raum, und hörte zu, bis der rauschende Orgelton stockte und schließlich abbrach. Er fand es überraschend, dass da oben nicht ein Mann, sondern ein rundliches Mädchen saß. Große, dunkle Augen hatte sie, und er sprach sie an, als sie, die Noten unter dem Arm, von der Empore herunterstieg. Sie ging noch zur Schule, auf das Gymnasium in Königsberg, und es war ganz klar, dass sie Pianistin werden würde.
Das war Ende 1939 gewesen. Karl absolvierte, zusammen mit Theo, die militärische Grundausbildung auf dem Flugplatz Neuhausen. Ob er sie wiedersehen dürfe, hatte er Edith gefragt, als sie vor dem Haus gleich neben der Kirche standen, in dem sie wohnte. Sie hatte unentschieden und doch geschmeichelt genickt.
9
Als Tante Gertrud einmal eine Freundin in Düsseldorf besuchte und über Nacht wegblieb, beschloss Edith, einen Apfelkuchen zu backen. Sie luden Theo ein. Der brachte Zucker, etwas Fett und ein Ei mit, Mehl hatten sie selbst, und hinter dem Haus gab es einen Apfelbaum, dessen Ernte im Keller gelagert war. Tante Gertruds Walholz seufzte, während Edith den Teig ausrollte, und als der Duft warmer Äpfel die Küche erfüllte, stiegen Edith die Tränen in die Augen. Es roch wie zu Hause. Es roch wie Frieden.
»Er schmeckt wunderbar, dein Kuchen, einfach wunderbar«, sagte Theo.
Karl legte den Arm um Edith. »Theo hat recht, er schmeckt wirklich wunderbar. Macht überhaupt nichts, dass er krümelig ist, der Teig.«
»Das ist Mürbeteig«, antwortete Edith, und ihre Stimme beschlug sich dabei, »der muss so sein.«
»Hier macht man den Apfelkuchen einfach ein bisschen anders«, sagte Theo und lenkte das Gespräch auf sein Studium.
Manchmal begleiteten sie Hermann Gronau, wenn der seine abendlichen Hausbesuche bei Patienten machte. In einer Butterbrotdose aus leicht verbeultem Aluminium, die nicht mehr richtig schloss und die er deshalb mit einem Gummiband zusammenhielt, hatte er seine Spritzenund Ampullen verstaut, aus denen er seine medizinischen Cocktails mixte.
Hermann hatte ein Auto, einen grauen DKW, Sondergenehmigung, und war froh, wenn er nicht allein unterwegs sein musste. Das war unterhaltsamer und sicherer, es konnte nachts ungemütlich auf den Straßen werden. Es gab Überfälle, Raub, Schlägereien, die böse enden konnten. Die Ausgangssperre, die die britische Besatzung verhängt hatte, half da nicht viel. Wenige der befreiten ehemaligen Zwangsarbeiter aus dem Osten wollten in ihre Heimat zurück. Manche hatten sich in den Besitz von Waffen gebracht und sahen zu, wie sie zu Geld kamen. Zu Hause hätte sie noch größeres Elend oder die Deportation nach Sibirien erwartet.
Außerdem hatte Hermann so seine Adressen von Kollegen, zu denen man nach den Hausbesuchen fahren konnte. Heidrun Brautmeier zum Beispiel war ein Genie im Umarbeiten von medizinischem Alkohol zu Likör. Das süße Gesöff machte schreckliche Kopfschmerzen, aber am Anfang brannte das Leben heiß und schwer in den Adern, ehe alles in einer angenehmen Trägheit versank. Edith vergaß für ein paar Augenblicke die Flucht und wie fremd diese Stadt ihr war, und schlief an Karls Schulter ein.
Karl, den es im Hals würgte, wenn die anwesenden Männer mit ihren Kriegserlebnissen prahlten, dachte an ein chinesisches Gedicht, das er neulich aus einem Gedichtband abgeschrieben hatte. »Wenn ich nach Hause gehe«, hieß es darin, »sind wir immer drei. Der Mond leitet mich, und mein Schatten
Weitere Kostenlose Bücher