Brombeersommer: Roman (German Edition)
war.
Viola hatte in der neuen Schule rasch Freundinnen gefunden. Marie mochte sie am liebsten. Marie war so ordentlich und verständig und schon sehr weiblich, anders als Viola, die lebhaft war und manchmal aneckte. »Viola ist ein ungestümes Mädchen«, stand in ihrem Zeugnis.
Bei den Nachbarn und Verwandten hieß es: »Der Willi sollte seine Tochter besser an die Kandare nehmen, sonst macht die ihrem Mann mal keine Freude.« Und: »Im BDM wird die schon erzogen.«
Willi änderte seine politische Einstellung nicht, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen. Das fiel aber nicht weiter auf, weil er sich auch zuvor nicht aktiv politisch betätigt hatte. Trotzdem wusste Viola, dass sie in der Schule und im Bund Deutscher Mädel nicht über die Gespräche zu Hause reden durfte. Es war lästig, sich immer auf die Zunge zu beißen. Sie sah so vieles anders als die Mädchen um sie herum. Selbst Marie schwamm mit im breiten Strom der braunen Begeisterung, obwohl sie sich in Massenansammlungen nicht wohlfühlte. Aber dieses Unbehagen legte sie sich selbst zur Last, die schöne, stille Marie. Wenn sie anfing, ängstlich und unregelmäßig zu atmen, hakte Viola Marie wortlos unter und brachte sie in den Hintergrund des Geschehens, in die Nähe eines Fensters oder einer Tür.
7
Am 15. Oktober 1946 ging Karl zum Bahnhof, um Edith abzuholen mit allem, was sie noch besaß. Er hatte einen Handwagen organisiert, weil sie etwas von drei Koffern geschrieben hatte und er nicht wollte, dass sie einen tragen musste. Natürlich freute er sich. Er sagte sich das immer wieder: Sie ist meine Verlobte. Ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten will, Anfang 1941 in Neuhausen in Ostpreußen.
»Edith, ich muss an die Front«, hatte er gesagt, als sein Einsatzbefehl kam. »Was hältst du davon, wenn wir uns verloben?« Und er sah wieder vor sich, wie sie bei Ediths Eltern auf der Gartenbank vor dem Haus saßen. Er hatte den Arm um sie gelegt, beide strahlten und zeigten ihren Verlobungsring. Edith hatte ihm das Foto mit der Feldpost geschickt. Ein bisschen hatte es gelitten, weil er es im Krieg immer bei sich getragen hatte.
Sie wird jetzt dünner sein, dachte er, wie wir alle, immer hungrig. Damals hatte sie entsetzlich mit ihrer pummeligen Figur gehadert, egal, wie oft er beteuerte, er möge sie so. Das Foto hatte er bei sich. Als könnte er sie womöglich nicht erkennen.
Er war zu früh am Bahnhof, blieb in der Halle stehen, stellte den Mantelkragen hoch. Der Regen war durch das leck geschlagene Gewölbedach gedrungen und bildeteeine große, trübe Pfütze auf dem Boden. Hätte es nicht ein schöner, warmer Spätherbst sein können? Ein goldener Tag, der Edith in ihrer neuen Heimat empfing? Er fühlte nach dem Foto in der Brusttasche seines Hemdes, sah auf die Uhr, erschrak, als eine Hand seine Schulter berührte.
»Karl«, sagte jemand mit einem dunklen Lachen. »Du bist doch Karl, nicht? Karl Osterloh! Da könnt ich drauf wetten …«
Sie war fast so groß wie er. Hellbraune, glatte Haare, nachlässig im Nacken zusammengeschlungen, eine gute Figur, das sah man durch den Mantel. Erstaunlich elegant, der Mantel. Fahnenstoff, aber er saß perfekt, körperbetont. Nur konnte er das Gesicht nirgendwo in seinem Gedächtnis unterbringen.
»Ich sehe schon, du erkennst mich nicht wieder. Aber du bist Karl, oder?«
Er lächelte zerstreut, nickte, sah nervös wieder auf die Uhr. Edith kam erst in zwanzig Minuten.
»Jedenfalls duzen wir uns wohl«, erwiderte er unbeholfen und sah ihr endlich voll ins Gesicht.
»Das wär auch noch schöner, wenn wir uns plötzlich siezen würden.« Sie zog lächelnd ein Knie hoch und stand auf einem Bein. Sie verlor fast das Gleichgewicht dabei, weil sie eine schwere Tasche trug.
Karl griff automatisch nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Endlich dämmerte es ihm, aber auch nur, weil Theo von ihr gesprochen hatte. Er ließ ihren Arm wieder los. »Das Storchenbein, Viola Matussek!« Er lachte. »Mein Gott. Das ist eine Ewigkeit her.«
»Ja, das war in einem andern Leben.«
»Du siehst gut aus. Früher …«
»… war ich ein hässliches Entlein willst du sagen?« Sie sah ihn herausfordernd an.
Karl schüttelte den Kopf. »Nein, nur früher …«
»… hast du dich rein gar nicht für mich interessiert, schon klar.«
Früher hätte Karl sich das Haar aus der Stirn gestrichen, aber jetzt trug er die glatten blonden Haare nach hinten gekämmt, mit einem Ansatz von
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