Bruder Cadfael und ein Leichnam zuviel
meinen Namen kennt, ist mir jedoch unerklärlich.«
»Ich habe mich beim Pförtner über Euch erkundigt«, antwortete sie errötend. »Ich habe Euch bei Vesper und Komplet gesehen, und... Vergebt mir, Bruder, wenn ich zu neugierig war, aber es umgibt Euch etwas, als hättet Ihr viele Abenteuer erlebt, bevor Ihr in das Kloster eintratet. Der Pförtner sagte mir, Ihr hättet am Kreuzzug teilgenommen und wäret mit Gottfried von Bouillon bei der Belagerung von Jerusalem dabeigewesen! Von solch einem christlichen Dienst kann ich nur träumen... Oh!«
Sie hatte vor Verlegenheit über ihre Schwärmerei die Augen niedergeschlagen, und ihr Blick war auf das junge Gesicht des Toten zu ihren Füßen gefallen. Sie betrachtete es schweigend.
Es war nicht abstoßend – der Unbekannte sah jugendlich und fast hübsch aus.
»Und jetzt erfüllt Ihr für alle diese Unglücklichen die christlichste aller Pflichten«, sagte Aline mit gedämpfter Stimme. »Ist dies jener, der so unerwartet auftauchte? Der eine, der zuviel ist?«
»Er ist es.« Cadfael beugte sich nieder und zog das Leichentuch zurück, um ihr die einfache, aber gute Kleidung und die unkriegerische Erscheinung des Jünglings zu zeigen.
»Außer einem Dolch, den jeder Mann mit sich führt, wenn er auf Reisen geht, war er unbewaffnet.«
Sie sah unvermittelt auf. Über ihre Schulter hinweg betrachtete Beringar eindringlich das runde Gesicht, das im Leben sicher heiter und fröhlich gewesen war. »Wollt Ihr damit sagen«, fragte Aline, »daß er am Kampf in der Burg gar nicht beteiligt war und nicht zusammen mit der Burgbesatzung gefangengenommen wurde?«
»Ich habe diesen Eindruck. Kennt Ihr ihn?«
»Nein.« Noch einmal sah sie den Jüngling mit reinem, unpersönlichem Mitleid an. »So jung! Was für ein Jammer! Ich wollte, ich könnte Euch sagen, wie er heißt, aber ich habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Herr Beringar?«
»Nein. Er ist mir nicht bekannt.« Beringar betrachtete den Toten immer noch düster und nachdenklich. Jeder, der an der Bahre eines Gleichaltrigen steht, sieht seinen eigenen Tod.
Courcelle, der immer noch besorgt dabeistand, legte seine Hand auf Alines Arm und versuchte sie zum Gehen zu bewegen: »Kommt nun, Ihr habt Eure Aufgabe erfüllt, jetzt solltet Ihr diesen traurigen Ort verlassen. Ihr seht ja – Eure Sorgen waren unbegründet, Euer Bruder ist nicht hier.«
»Nein«, sagte Aline, »dies ist er nicht, obwohl er es sein könnte... Doch wie kann ich sicher sein, bevor ich sie nicht alle gesehen habe?« Sie sah sich suchend um. »Bruder Cadfael, Ihr versteht, daß ich mir Gewißheit verschaffen muß. Wollt Ihr mir zur Seite stehen?«
»Sehr gern«, sagte Cadfael, und ohne ein weiteres Wort führte er sie durch die Reihen der Toten, denn Worte hätten sie nicht von ihrem Entschluß abgebracht, und er fand, daß sie ein Recht hatte, darauf zu beharren. Die beiden jungen Männer folgten ihnen. Sie gingen nebeneinander – keiner wollte dem anderen den Vortritt lassen. Beklommen, aber entschlossen sah Aline auf die Gesichter der Hingerichteten herab. Plötzlich blieb sie stehen und klammerte sich an Cadfaels Arm. Aus ihrem Mund drang kein Schrei, sie hatte gerade genug Atem für ein leises Stöhnen, und nur Cadfael, der ihr am nächsten stand, hörte das Wort, das sich dahinter verbarg. »Giles!« wiederholte sie etwas lauter. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, so daß es fast durchsichtig zu sein schien. Sie starrte auf das Gesicht eines Toten zu ihren Füßen, das einmal willensstark und hübsch gewesen war. Sie sank auf die Knie, und dann entrang sich ihrer Kehle der einzige Schmerzensschrei, den sie je für ihren Bruder ausstieß. Als sie sich über seine Leiche warf und ihn in die Arme schloß, verrutschte ihre Haube, ihr Haar löste sich und legte sich wie ein goldener Schleier über Bruder und Schwester.
Bruder Cadfael war erfahren genug, um zu wissen, daß sie jetzt weniger des tröstenden Beistandes als der schweigenden Zurückhaltung bedurfte, und er hätte sie ihrem Schmerz überlassen, aber er wurde beiseite gestoßen. Adam Courcelle fiel neben ihr auf die Knie und zog sie an seine Schulter. Die Entdeckung ihres Bruders unter den Toten hatte ihn ebenso getroffen wie Aline. Sein Gesicht war entsetzt und verstört, und er brachte nur ein verzweifeltes Stottern heraus.
»Aline! Lieber Gott, ist dies wirklich Euer Bruder? Hätte ich das gewußt... hätte ich das gewußt, dann hätte ich sein Leben um Euretwillen geschont...
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