Bruder Cadfael und ein Leichnam zuviel
ich hätte ihn gerettet... lieber Gott, sei mir gnädig!«
Auf ihrem Gesicht waren keine Tränen zu sehen. Voller Verwunderung über seine Gewissensbisse sah sie ihn an.
»Nein, so dürft Ihr nicht sprechen! Es war nicht Euer Fehler, Ihr kanntet ihn ja nicht. Ihr habt nur getan, was Euch befohlen war.
Und wie hättet Ihr die anderen hinrichten und ihn schonen können?«
»Dann ist er wirklich Euer Bruder?«
»Ja«, sagte sie und sah den Toten mit einem Gesicht an, aus dem jetzt sogar Schrecken und Schmerz verschwunden waren.
»Das ist Giles.« Nun hatte sie die furchtbare Gewißheit, und da es keine weiteren Verwandten gab, oblag es nun ihr, alles Nötige in die Wege zu leiten. Bewegungslos ließ sie sich von Courcelle am Arm halten und blickte ernst auf das tote Gesicht ihres Bruders.
Plötzlich stieß sie einen kurzen Seufzer aus und stand auf.
Hugh Beringar, der sich während dieser ganzen Szene klugerweise im Hintergrund gehalten hatte, reichte ihr die Hand und stützte sie. Noch nie in ihrem Leben war sie einer so schweren Prüfung ausgesetzt gewesen, aber jetzt hatte sie sich voll in der Gewalt. Sie konnte und würde alles tun, was nötig war.
»Bruder Cadfael, ich danke Euch für alles, was Ihr getan habt – nicht nur für Giles und mich, sondern auch für alle diese anderen Unglücklichen. Wenn Ihr erlaubt, werde ich die Bestattung meines Bruders in die Hand nehmen, wie es sich gebührt.«
Courcelle stand immer noch erschüttert neben ihr. »Wohin wollt Ihr ihn überführen?« fragte er. »Meine Männer werden ihn hinbringen und Euch zur Verfügung stehen, solange Ihr ihrer bedürft. Ich wollte, ich könnte Euch persönlich zu Diensten sein, aber ich darf meinen Posten nicht verlassen.«
»Ihr seid sehr freundlich«, sagte sie gefaßt. »Die Familie meiner Mutter hat eine Gruft in der Kirche von St. Alkmund hier in der Stadt. Pater Elias kennt mich. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr meinen Bruder dorthin bringen lassen würdet, aber ich will Eure Männer nicht länger beanspruchen als unbedingt nötig. Ich werde alles Nötige selber regeln.« Ihr Gesicht war ernst, ihre Gedanken jetzt ganz auf das Praktische gerichtet.
Alles mögliche wollte bedacht sein – die Sommerhitze, die Beschaffung der Dinge, die für ein ordentliches Begräbnis nötig waren. Es war Eile geboten. Sie traf ihre Entscheidungen mit Bestimmtheit.
»Herr Beringar, ich weiß Eure Freundlichkeit zu schätzen, aber jetzt muß ich mich um meinen toten Bruder kümmern. Es besteht keine Notwendigkeit, Euch den Rest des Tages zu verderben. Ihr braucht Euch um mich keine Sorgen zu machen.«
»Ich bin mit Euch hergekommen«, sagte Hugh Beringar, »und ich werde ohne Euch nicht zurückkehren.« Instinktiv spürte er, daß es unangebracht gewesen wäre, irgend etwas mehr zu sagen oder sie seines Mitgefühls zu versichern. Sie akzeptierte seine Entscheidung und wandte sich wieder ihren Pflichten zu.
Zwei Soldaten der Wache brachten eine Bahre und betteten Giles Siwards Leiche darauf.
In diesem Moment rief Courcelle, der die ganze Zeit bekümmert den Toten angeblickt hatte: »Wartet! Mir ist etwas eingefallen - ich glaube, da ist noch etwas, das ihm gehört hat.«
Eilig verließ er den Raum, ging in den Wachtturm und kehrte einige Augenblicke später mit einem schwarzen Umhang über dem Arm zurück. »Dies war unter den Kleidungsstücken, die sie vor der Hinrichtung ablegen mußten. Ich glaube, dieser Umhang gehörte ihm – die Spange hat dieselbe Form wie seine Gürtelschnalle.« Und tatsächlich war auf beiden Teilen in erhabener Bronzearbeit derselbe Drache der Ewigkeit dargestellt, der die Spitze seines Schwanzes im Maul hielt.
»Das ist mir erst jetzt aufgefallen. Das kann kein Zufall sein.
Laßt mich ihm wenigstens dies mitgeben.« Er entfaltete den Umhang und breitete ihn über die Bahre, so daß er das Gesicht des Toten bedeckte. Als er aufblickte, sah er in Alines Augen, und zum erstenmal bemerkte er in ihnen Tränen.
»Das war sehr freundlich von Euch«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Ich werde es Euch nicht vergessen.«
Cadfael nahm seine Totenwache bei dem Unbekannten wieder auf, aber seine Fragen erbrachten kein Ergebnis. Am Abend würden alle Toten, die nicht abgeholt worden waren, ins Kloster gebracht werden müssen; man würde ein Massengrab auf einem Stück Land am Rande des Klostergeländes ausheben, das von Abt Heribert gesegnet werden würde. Aber dieser Unbekannte, der nie wegen eines Verbrechens
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