Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Dünnes, Spitzes, womit er ihn umgebracht hat. Ihr müsst nur diese Waffe finden. Wahrscheinlich hat er sie, kurz bevor ich reinkam, aus dem Fenster oder ins Treppenhaus geworfen.«
»Hm-hm.«
»Was?«
»Wir haben die Wohnung, das Treppenhaus und den Innenhof Zentimeter für Zentimeter abgesucht.« Octavians Stimme klang reserviert. »Hätte dort irgendwo eine Waffe gelegen, hätten wir sie gefunden.«
»Vielleicht hat sie sich ein Hund geschnappt als Lolli, war doch Blut dran.«
»Ja«, sagte Octavian, »oder Abakay hat sie sich in den Arsch geschoben und rutscht deshalb immer so fröhlich auf dem Stuhl hin und her. Hör zu, Kemal, eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du bist Verdächtiger – und ich kann dir sagen, Abakay beschreibt dein Äußeres ziemlich gut, und falls wir einen Hinweis auf deine Klientin finden und da eine Verbindung herstellen können… Ich bin sicher, dass du so was nie machen würdest, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass der ein oder andere Kollege von mir auf die Idee käme, dass du für die Eltern des Mädchens einen schmutzigen Auftrag übernommen hast.«
»Bitte?«
»Wie du weißt, habe ich zwei Töchter, zwölf und vierzehn. Wenn ich mir vorstelle, jemand schickt die auf den Strich – ich würde den auch umbringen lassen wollen. Vielleicht ist dir Rönnthaler in die Quere gekommen, und anschließend war dir ein bisschen flau und die Töterei zu viel, und du hast Abakay nur noch ordentlich zugerichtet. Wie gesagt, ich bin sicher, dass du so was nie machen würdest, aber…«
Er brach ab. Zweimal »sicher, dass du nie« hieß erfahrungsgemäß »sicher, dass du nie, bin ich sicher nicht – und würde darum auch keinen kleinen Finger für dich ins Feuer legen«.
Interessant, dass mir innerhalb von wenigen Tagen gleich zwei Leute einen Auftragsmord zutrauten.
»Und die zweite Möglichkeit?«
»Du wirst unser Zeuge. Aber erstens kann ich dir nicht versprechen, dass deine Klientin rausgehalten wird – wenn wir sie finden, wird sie im Prozess eine Rolle spielen, und, ehrlich gesagt, gibt’s da schon eine kleine Idee. Zwischen Abakays Papieren lagen ein Foto und eine Visitenkarte: Valerie de Chavannes, Zeppelinallee – das große Los für einen wie Abakay.«
»Nie gehört den Namen.«
»Na, ist ja auch erst mal egal. Zweitens muss ich dich warnen: Wenn irgendwas an deiner Geschichte faul ist – zum Beispiel sagt unser Doktor, dass die Schnitte auf Abakays Brust kaum im Kampf entstanden sein können und dass das Messer nicht so in Rönnthalers Hand lag, als sei er damit umgefallen – also jedenfalls: Ich hoffe, dass du als offizieller Zeuge einen Bericht ablieferst, der mit den Fakten und Indizien einigermaßen übereinstimmt. Außerdem und unter uns: Wenn Scheich Hakim irgendein Interesse an seinem Neffen hat und daran, dass er nicht allzu lange im Knast hockt – er kennt sicher Leute, die einem Hauptbelastungszeugen ganz schön zusetzen können.«
Plötzlich kam mir eine unangenehme Idee. »Sag mal, Octavian, du möchtest mich gar nicht so gerne als Zeugen, was?«
»Ich möchte keinen Zeugen, dessen Geschichte im Laufe der Ermittlungen oder des Prozesses zusammenkracht. Dazu kommt natürlich…«, er atmete hörbar ein, »…dass die Leute wissen, dass wir uns kennen, und dass es für meine Karriere keine Hilfe ist, wenn ein Bekannter von mir versucht, die Polizei an der Nase herumzuführen.«
»Aber dich von Abakay an der Nase herumführen zu lassen, das ist okay für die Karriere?«
»Abakay ist kein Bekannter von mir.«
»Tja, Octavian, tut mir leid, dich da eventuell in eine unangenehme Lage zu bringen, aber…«
Ich war wütend, und mein ironischer Tonfall war kindisch. Andererseits klang Octavian ganz so, als hätte Abakay eine Chance, mit seiner Geschichte durchzukommen. Vielleicht hatte ich es mit dem Arrangieren der Situation in Abakays Wohnung übertrieben, zu viele Unstimmigkeiten, und am Ende wäre es meine Schuld, wenn sie Abakay freilassen müssten. Ob er zwei oder fünf Jahre bekam, war mir nicht so wichtig, aber dass er womöglich ganz ohne Strafe blieb, empfand ich als Skandal. Darum sagte ich, ohne weiter drüber nachzudenken: »Ich werde mich als Zeuge melden. Und zwar mit der Geschichte, die du kennst. Das ist das, was ich gesehen habe. Ich bin kein Arzt, woher soll ich wissen, dass Abakays Schnittwunden nicht von einem Kampf herrühren.«
»Abakay behauptet«, erwiderte Octavian mit betont sachlicher Stimme, »dass ihm die
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