Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
dem ›Mister Happy‹ bis ins Westend und zu ›Deborahs Naturweinstube‹ geschafft hatte und noch viel weiter schaffen werde) –, jedenfalls sagte ich: »Wenn wir ein Israel hätten, könnten wir, wenn wir das Gefühl haben, ein Streit bahnt sich an, immer sagen: Hey, dieses verdammte Israel, darum kam ich nicht zum Aufräumen. Oder: Deine Freundin Alexa ist nur wegen des schlechten Einflusses von Israel so eine hysterische Besserwisserin. Und auch bei Müdigkeit oder wenn die Milch überkocht – wär doch toll, immer einen Schuldigen zu haben, und wir sehen bei uns nur noch Vorteile und Schönheiten.«
Deborah musterte mich, als hätte ich einen fiesen Dachschaden.
»Sag doch gleich die Juden, aber das traust du dich wohl nicht.«
»Ich würd’s mich schon trauen, weil’s nämlich ein Witz ist, Schatz. Verstehst du? Nicht ernst gemeint. Ich habe mich über die nichtjüdischen Nahostler lustig gemacht. Aber heute sagt nun mal keiner mehr, die Juden sind schuld. Kein Antisemit auf der ganzen Welt sagt das mehr. Er sagt, Israel ist schuld. Und darum, also witzetechnisch – wenn man wie ich glaubt, dass ein Witz umso schärfer ist, je genauer er mit der Wirklichkeit umgeht –, darum also…«
»Ich find’s aber gar nicht lustig.«
»Na, und nun stell dir vor, wir sehen Nachrichten vom Nahen Osten, und ich hätte gesagt: Hey, wie wär’s, wir schaffen uns einen Juden an, dann haben wir einen Schuldigen, wenn das nächste Mal die Milch überkocht? Das hättest du noch viel weniger lustig gefunden.«
»Ich glaube, heute ist nicht unser Tag.«
Tja, dachte ich, wenn wir ein Israel hätten.
»Du weißt ja wohl noch, dass meine Oma…«
»Du lieber Himmel, was hat das damit zu tun?«
Deborahs Oma – die wahre Deborah – war sehr wahrscheinlich jüdisch gewesen. Der Großvater hatte sie 1945 völlig ausgehungert, krank und zerlumpt im Wald bei Henningsbostel gefunden, mit nach Hause genommen, gesund gepflegt und schließlich geheiratet. Die Oma hatte über ihre Herkunft und das, was ihr bis ’45 widerfahren war, nie gesprochen, aber es hatte wohl Andeutungen und auf bestimmte Fragen entweder sehr beredtes Schweigen oder unverhältnismäßig harsche Zurückweisung gegeben. Als Deborah mir vor zehn Jahren zum ersten Mal von ihrer Oma erzählte, war ich noch skeptisch gewesen. Welcher Deutsche, so dachte ich, hat heutzutage keine jüdische Oma? Aber dann sah ich auf Fotos eine dunkelhaarige, blasse Schönheit, die fürs norddeutsche Land jedenfalls nicht typisch war. Von ihr hatte meine Deborah ihre dichten Augenbrauen, dunklen Locken und vollen Lippen.
»Für mich hat es etwas miteinander zu tun. Ich mag Witze, und wenn sie noch so lustig wären – wären, hörst du? – über das Thema nicht. Sie haben immer so was Originelles, so was Verbotenes und nun-aber-trotzdem, jedenfalls nichts Lässiges. Und ich finde, ein Witz ist um so lustiger, je lässiger er ist. Schärfe gehört für mich in die Suppe. Außerdem – weiß ich, wie du ganz tief drinnen wirklich tickst? Haben wir jemals darüber geredet? Du sagst immer: Religion, nein danke, aber deine Eltern waren ja wohl Moslems, und bis vier hast du mit deinem Vater zusammengelebt, da bleibt doch was hängen…«
Aber hoppla! Einen Augenblick schaute ich wohl ziemlich verblüfft. Aufgewachsen in Frankfurt, nie eine Moschee betreten, nie einem Verein oder einer Partei angehört, nie an etwas anderes geglaubt als an die eigenen Fähigkeiten, Privatdetektiv, Trinker, Gladbach-Fan, und nun mit dreiundfünfzig Jahren von der Frau, mit der ich seit zehn Jahren eine Liebesbeziehung führte, wegen meiner Herkunft und eines Witzes, den sie nicht verstand: Aber deine Eltern waren ja wohl Moslems!
Meine Mutter starb bei meiner Geburt in der Türkei, mein Vater nahm mich nach Deutschland mit, wo er vier Jahre später von einem Postauto totgefahren wurde. Ich kam ins Heim und wurde zwei Monate darauf von dem Ehepaar Holzheim, einem Lehrer und einer Kindergärtnerin, adoptiert. Ich habe ein paar Erinnerungen an meinen Vater. Meistens saßen wir zusammen im Café, er rauchte, und ich trank Apfelsaft. Dabei behandelte er mich wie einen Erwachsenen, nicht wie ein kleines Kind. Vieles von dem, was er sagte, verstand ich nicht, aber ich verstand, dass er mich respektierte und mein bester Freund sein wollte. Nicht mein Lehrer. Ein Satz von ihm lautete: Ich kann dir nur beibringen, wie man mit Messer und Gabel isst, du bringst mir bei, wieder zu wissen, ob das Essen
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