Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Tine als Sekretärin bei einer Versicherung und wohnte mit ihrer Tochter im Stadtteil Hausen. Hanna kam oft zu uns zu Besuch, jobbte in den Schulferien in der Weinstube und war wohl einer der Auslöser für Deborahs Kinderwunsch. Als Deborah vor zwei Tagen beim »Aperitif« gesagt hatte: »Kemal, ich will ein Baby«, war mir noch flapsig und in Gedenken an Deborahs berufliche Vergangenheit rausgerutscht: »Mit wem?« Worauf sie wütend den Balkon verlassen hatte.
Doch seitdem ging mir ihr Satz immer wieder im Kopf herum und war der Grund, weshalb ich mir an einem freien Nachmittag das ziemlich hilflose Gekicke zweier U-15Mädchenfußballmannschaften ansah. Ich wollte ausprobieren, wie das ist, mit anderen Vätern und Müttern am Platzrand zu stehen, ein abgestandenes Bier in der Hand, und zuzugucken, wie die Kinder über den Ball stolperten.
»Nanu, was machst du denn hier?«, fragte Hanna, als sie mich nach dem Spiel unter den etwa fünfzehn Zuschauern entdeckte. Sie war ein langes, dünnes Mädchen mit Zungenpiercing und blonden, unregelmäßig mit dem Bartschneider bearbeiteten, mehr oder weniger zentimeterkurzen Haaren. Meistens trug sie Jungenkleidung, zerschlissene Turnschuhe, Cargohosen, weite T-Shirts in verwaschenen Farben und manchmal ein zum Strang gewickeltes Tuch um die Stirn. Dann sah sie aus wie eine Dschungelkämpferin, ich rief sie Rambo, und sie fragte: »Wer ist das?« Dabei hatte sie ein feines, blasses, schönes Gesicht, was bei ihrem Look allerdings leicht unbemerkt bleiben konnte. Eine Weile dachte ich, sie sei lesbisch, sagte aber natürlich niemandem etwas. Ich wollte mir Deborahs Kopfschütteln und Tines Empörung sparen: Na klar, wenn Mädchen Fußball spielen!
Aber dann hatte Hanna ihren ersten Freund, einen in ihrer Schule sehr beliebten, lässigen, Leonardo-DiCaprio-artigen Skateboardfahrer, und ich sah ein, dass ein Mädchen, das auf mich wirkte wie eine unterernährte Hilfsarbeiterin mit Frisurproblem, in ihrer Generation und ihrem Umfeld offenbar attraktive Ausstrahlung besaß.
»Ich war in der Nähe, hatte Zeit und wollte mal sehen, wie ihr spielt.« Ich hob den Daumen. »Super!«
»Ach komm, erzähl nix. Bist du mit dem Auto da?«
»Ja.«
»Kannst du mich mitnehmen?«
»Klar. Wohin?«
»Ich hab riesigen Hunger. Lädst du mich zum Essen ein?«
»Okay. Aber in Sachsenhausen. Ich muss dort mein Fahrrad holen.«
Nachdem sie sich geduscht und umgezogen hatte, fuhren wir ins Café Klaudia . Vor der Haustür zu Abakays Wohnung stand ein Polizeiwagen. Wir setzten uns auf die Terrasse, und Hanna bestellte Spaghetti mit Gemüsesoße und Apfelschorle, ich einen Apfelwein. Hanna erzählte von ihren Mitspielerinnen, der Trainerin, der Schule, Ferienplänen mit Leonardo DiCaprio, und ich stellte fest, dass mir die Blicke von den Nachbartischen – ah, der Papa mit seiner lebhaften Tochter – nicht unangenehm waren. Dabei hätte sich die Genetik schon in außergewöhnlich experimentierfreudigem Zustand befunden haben müssen, um mit meinen Anlagen zu einem so blonden, hellen Ergebnis zu kommen. Aber unsere Vater-Tochter-Aura war offenbar stark genug, dass für die Umsitzenden unser unterschiedliches Aussehen nicht weiter ins Gewicht fiel. Und dann versuchte ich mir vorzustellen, Hanna sei wirklich meine Tochter: ein paar von meinen Genen, ein paar von meinen Ticks, vielleicht ein ähnlicher Gang oder ein ähnliches Lächeln, die Haare nur blond gefärbt und hinter dem modisch blass geschminkten Teint asiatisches Gelbbraun. Doch es klappte nicht. Da saß immer noch die Tochter von Deborahs Schwester, und obwohl ich sie mochte, verspürte ich weder Lust, ihre Hand mit den angekauten Fingernägeln zu nehmen, noch sie zum Kino einzuladen oder so was. Aber immerhin: Zum ersten Mal wurde ich neugierig, wie so ein Gefühl wohl sein mochte.
Als der Kellner die Rechnung brachte, fragte ich, ob ihm am frühen Mittag beim Abräumen vielleicht das Fehlen eines Schaschlikspießes aufgefallen sei.
»Passiert öfter mal, dass Leute Besteck oder Tassen oder sonst was mitgehen lassen«, erwiderte der Kellner, ein junger Mann mit Perlenohrringen, Wuschelkopf und tätowiertem Drachen auf dem Oberarm, und ließ keinen Zweifel daran, dass verschwundenes Besteck ihn einen feuchten Dreck interessierte.
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Sind Sie etwa auch von der Polizei?«
»Nein«, sagte ich, aber Hanna sagte: »Doch.« Und zum Kellner, der höchstens fünf, sechs Jahre älter war als sie und ihr
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