Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
schmeckt oder nur schmackhaft aussieht. Sinngemäß jedenfalls. Mein Vater sprach türkisch mit mir, eine Sprache, die ich bei Holzheims bald vergessen habe. Jedenfalls: Wenn mein Vater religiöse Anwandlungen hatte, dann betrafen sie mich. Es gab Tagebuchaufzeichnungen von ihm, die ich später übersetzen ließ und in denen er mich meistens nur als sein »kleines großes Wunder« bezeichnete. Wenn Deborah empfindlich wegen ihrer Oma war, war ich es wegen meinem Vater mindestens genauso. Dass sie ihn in die Nähe Juden hassender Fernsehnachrichten-Moslems rückte, ging mir auf den Wecker.
»Nun, jetzt, wo du’s ansprichst… Ich wollte dich tatsächlich schon lange mal fragen, ob du dir vorstellen könntest… Na ja, nicht übers ganze Gesicht, aber einen Schleier bis zur Nase, damit nicht die ganze Männerwelt deine gotteslästerlichen Lippen sieht…«
Und du hin und wieder die Klappe hältst.
Deborah sah mich an, dann sagte sie plötzlich ziemlich freundlich: »Ach komm, lass uns was trinken!« und ging in die Küche, um eine Flasche Wein zu holen. Alkoholika waren unsere Blauhelme. Aber so ganz trauten wir uns seitdem, was das Thema betraf, nicht über den Weg.
Interessant wurde es in Scheich Hakims Interview bei der Frage, wie er als Geistlicher den Umgang mit Alkohol und Drogen bewerte: »Nun, das ist wirklich nicht mein Gebiet. Aber ich weiß natürlich: Jede Weltregion hat über die Jahrtausende Mittel entwickelt, um sich den Feierabend zu versüßen. In Südamerika werden Cocablätter gekaut, in Europa, auch in meinem Heimatland Türkei, wird Alkohol getrunken – warum aber sind die Mittel anderer Weltregionen so kriminalisiert? In erster Linie natürlich Haschisch, ein vergleichsweise harmloses Kraut. Aber auch Opiumrauchen ist in manchen Gegenden ein übliches Genussmittel. Als gläubiger Moslem trinke ich weder Alkohol, noch nehme ich irgendwelche anderen Drogen, aber ich bin nicht blind. Der Alkoholismus in Europa – gucken Sie sich nur mal Russland an – und den USA ist doch ein ungeheures Problem. Aber haben Sie schon jemals davon gehört, dass Haschischrauchen in den Ländern Nordafrikas oder Asiens zu hoher Sterblichkeit, Geburtenrückgang und der Verwahrlosung breiter Gesellschaftsschichten führt? Wissen Sie, was ich denke? Dass es im Interesse der Alkoholproduzenten ist, keine legale Alternative auf dem Markt zuzulassen, und da Alkohol nun mal vor allem im Westen produziert wird, muss man die Zustände, denke ich, als stark imperialistisch bezeichnen.«
Interessant jedenfalls, wenn Scheich Hakim wirklich im Heroingeschäft steckte. Ein frecher Schweinehund.
Aber vielleicht irrten sich Octavian und die Polizei, und Hakim leistete sich Leibwächter und Überwachungskameras nur, weil er vor seinen Jüngern was hermachen wollte. Jedenfalls vermittelte sich durchs Internet keine besondere Gefahr. Im Gegenteil: Hakim schien zwar ein konservativer Prediger zu sein, aber keiner mit echtem Dachschaden. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass er einen missratenen Neffen schützen würde, der Minderjährige auf den Strich schickte. Andererseits: Jungfrauen, da war doch was? Und ungläubige Jungfrauen, was war damit? Durfte man die vielleicht auf den Strich schicken, so viel man wollte? Sollte man es womöglich sogar? Darin bestand ja oft das Problem mit einem Religiösen: Zu neunundneunzig Prozent verhielt sich die Person recht normal, aber in dem einen restlichen Prozent lauerte der Irrsinn. Nicht wie zum Beispiel beim Papst, der mit seinen rosa Pädoschläppchen vor die von Überbevölkerung geplagte Weltgemeinde huschte und Kondome verteufelte – da lag der Irrsinn schön offen. Dagegen Hakim: jahrzehntelange Unterstützung krimineller Despoten durch den Westen, ja klar, Gefühl der Erniedrigung, das sich nun in Wut verwandle, okay, Haschisch legalisieren, warum nicht. Aber dann vielleicht: ungläubige Jungfrauen sind der Dreck unter Gottes gerechtem Stiefel!
Ich überlegte, wie viel von den Neuigkeiten ich Valerie de Chavannes mitteilen wollte. Ich musste sie vor Scheich Hakim warnen. Und ich musste sie vor der Polizei warnen. Und zwar in beiden Fällen in meinem Interesse. Octavian hatte leider vollkommen recht: Eine Mutter, die einen Privatdetektiv engagiert, um ihre Tochter aus den Fängen eines zweifelhaften Typen zu befreien, und dann beschuldigt der Typ den Privatdetektiv, einen zufällig anwesenden Freund umgebracht und ihn selber übel zugerichtet zu haben – das sah nicht gut
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