Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Krankenhausdoktor befürchtet bleibende Schäden… Hörst du? Bleibende Schäden! Und die wird dein Doktor auch befürchten – darauf kannst du dir schon mal noch ’ne Runde in die Hose pissen!«
»Abakay… lass es…«
»Na, jetzt wo du’s sagst. Gut, geh ich eben wieder nach Hause…«
Er lachte. Dann beugte er sich herunter und hielt mir das Messer vor die Nase. »Mein geometrischer Zeichenstift…«
Diesmal war es meine Absicht, zu röcheln und so kläglich wie möglich zu klingen: »Nein, bitte… hör auf…«
Dabei kroch ich von Abakay weg. Es sollte wie ein Akt purer Verzweiflung wirken. Ich hatte nicht die geringste Chance zu fliehen. Sobald Abakay wollte, konnte er mir einfach den Stiefel ins Genick treten oder mir in die Beine schießen oder sonst was antun. Und in genau diesem Gefühl absoluter Macht sah er mir grinsend dabei zu, wie ich mich auf allen vieren mit vom Kinn tropfender Kotze dem Mülleimer näherte.
»Sehr tapfer! Weißt du, was ich mir gerade überlege, wo ich dich so Arsch-hoch sehe? Was mehr bleibende Schäden hinterlässt: so ’n trockener Tritt von hinten mit hochgezogener Stiefelspitze, oder von vorne mit dem Absatz voll ins Weiche…«
»Abakay, lass es… Glaub mir, du hast keine Chance…«
»Bitte?«
Ich kroch weiter, immer weiter.
»Geh nach Hause, es ist das Beste…«
»Du bist ’n Komiker, was? Soll ich dir was sagen? Ich geh nach Hause – und zwar sobald deine Eier Matsch sind. So, genug gelabert…«
Ich war noch etwa einen halben Meter vom Mülleimer entfernt, als er mir erneut in den Magen trat. Ein weiterer Strahl Kotze, dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, saß Abakay rittlings auf mir und schnitt mein Hemd und mein T-Shirt auf.
»Ah, guten Morgen… Wir sind gleich so weit… Ich dachte, wir fangen mal mit Bauklötzen an, dann Kreise und am Ende noch ’n paar schöne gerade Striche, das wird bestimmt hübsch.«
»Lass es…«, flüsterte ich, »…bitte!« Ich erbat es in dem Moment ebenso sehr für mich wie für ihn. Aber das verstand er natürlich nicht.
Er äffte mich nach: »Bitte, bitte, bitte! Lieber Erden, ich habe dich zugerichtet wie ein Schwein, aber jetzt tu mir bitte, bitte nicht weh!«
Er hielt meine Arme mit seinen Knien auf den Boden gedrückt, wie es Kinder bei Schulhofkämpfen machen. Meine rechte Hand war immer noch ungefähr einen halben Meter vom Mülleimer entfernt.
»So«, rief er schließlich, als meine Brust nackt und schwer atmend vor ihm lag, und schwang sein Messer übermütig wie einen Zauberstab durch die Luft. »Gut aufpassen, damit’s nicht ins Auge geht!«
Er lachte noch, als ich ihn mit einem heftigen Aufbäumen zur Seite warf. Er landete im Kies, das Messer erhoben, und lachte weiter. »Na, endlich, bisschen Action!« Noch hätte er mich mühelos abstechen können. Er sah mir zu, wie ich mich umdrehte und weiterkroch.
»Na, wohin soll’s denn gehen?« Mit amüsiertem Ausdruck stützte er den Ellbogen in den Kies und legte den Kopf in die Hand. »Willst dich gleich selbst in den Müll werfen?«
Ich bekam die im Schatten verborgene Pistole zu fassen. Am liebsten wäre ich liegen geblieben. Jede Faser meines Körpers verlangte danach, in dem weichen, warmen, gemütlichen Kies einen Augenblick zu verschnaufen.
»Und jetzt, du Arschloch?«
»Jetzt ist Schluss mit Geometrie«, flüsterte ich, drehte mich um, schoss ihm erst ins Gesicht und dann zur Sicherheit noch in die Brust.
Ich brauchte ungefähr zwanzig Minuten, um auf die Beine zu kommen. Ich steckte meine Pistole ein, wankte zum Türmchen, hob die zweite Pistole auf und blieb schwer atmend stehen. Ich betrachtete eine Weile die düstere Szenerie: Abakay, den Nieselregen, den Mülleimer, die Langnese-Reklamepappe. Ich hatte keine Wahl gehabt. So wie Abakay in Stimmung gewesen war, hätte er es kaum beim Brustaufschlitzen und einem Tritt zwischen die Beine belassen. Er hätte mich auf die eine oder andere Art zum Krüppel gemacht.
Schließlich gab ich mir einen Ruck und wankte zum Lieferwagen.
Der Schlüssel steckte. Vom Laderaum hinten hörte ich Rashid gegen das Autoblech wummern. Ich ließ den Motor an, und Rashid jaulte auf. Bestimmt hatten sie ihm die Freilassung angekündigt, und jetzt glaubte er, etwas sei schiefgegangen.
Vorsichtig fuhr ich die Straße hinunter und durchs Westend, dann an der alten Oper vorbei und zum ›Frankfurter Hof‹. Ich parkte den Lieferwagen in einer nahen Seitenstraße, wischte meine
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