Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
als ich gegenüber Octavian nicht mehr bei Vermutungen geblieben war, sondern behauptet hatte, es gäbe keine andere Möglichkeit, als dass Abakay der Mörder sei.
Schließlich erklärte ich: »In dem verriegelten, schalldicht gemachten Zimmer lag ein zitterndes sechzehnjähriges Mädchen, das sich den Finger in den Hals gesteckt und sich mit seiner Kotze eingerieben hatte, damit ein besoffener Fettsack es nicht vergewaltigt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Mädchenleben Abakay auf diese Weise aus der Bahn getreten hat, und das, fand ich, sollte er nie wieder können.«
Deborah reagierte eine Weile nicht, dann schlug sie die Augen auf, drehte sich zu mir und schob sich ein Kissen unter den Kopf.
»Du weißt ja hoffentlich noch, mit wem du dein Bett teilst? Das sind Nuttenschicksale. Nicht für alle, aber für manche. Ich hatte Glück, aber ich habe einige Mädchen kennengelernt, die das nicht hatten. Und du auch, du hast es nur vergessen. Heute kommt dir das, was der Tochter deiner Klientin passiert ist, wie der schlimmste Alptraum vor, aber damals – weißt du nicht mehr, wie wir morgens um fünf in irgendwelchen Kneipen saßen – kaputt, pleite, betrunken – und nur darauf hofften, noch einen Kunden zu kriegen, kein Aids zu haben oder irgendeinen Blöden zu finden, der ’ne Runde ausgibt? Du, ich, Tugba, Slibulsky und wie sie alle hießen. Manche sind heute schon lange beerdigt, andere leben im Westend. Du bist alt geworden, mein Süßer, und weich, und das ist gut so – aber morgen rufst du Octavian an und ziehst die beknackte Aussage zurück.«
Ich sagte nichts. Ich dachte an das Triumphgefühl, das Abakay empfinden würde.
»Hast du eine Ahnung, wer der Mörder sein könnte?«
Ob er es wagen würde, noch mal bei de Chavannes aufzutauchen?
»Ich hab dich was gefragt.«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich abwesend.
»Ach komm, Süßer.« Sie stupste mir einen Finger in den Bauch. »Du bist nur ein ganz bisschen alt und ein ganz bisschen weich, und im Westend wohnst du auch nur wegen deiner aufstiegsgeilen Freundin. Und jetzt mach bitte dein Licht aus.«
Am nächsten Morgen rief ich Octavian an. Es war Sonntag, und er saß bei irgendeiner rumänischen Verwandtschaft beim Frühstück.
»Bitte, was?!«
»Ja, ich nehme Teile meiner Aussage zurück. Ich habe bei meinem Eintreffen in Abakays Wohnung fälschlicherweise angenommen, dass Abakay Rönnthaler umgebracht hat. Leider habe ich Abakay keine Zeit gelassen, sich zu erklären, sondern ihn im Glauben, ich befände mich in akuter Lebensgefahr, sofort überwältigt. Na ja, den Rest kennst du, ich habe ihn verschnürt und geknebelt.«
»Du hast doch wohl… Und die Schnittwunden in Abakays Brust?!«
»Keine Ahnung.«
Es entstand eine Pause. Aus der Küche hörte ich Deborah, wie sie Orangen auspresste. Aus dem Telefon drang Octavians aufgeregter Atem.
»Du weißt, dass wir Abakay damit freilassen müssen?«
»Er ist immer noch Zuhälter und Drogendealer. Ihr habt nur mich nicht mehr als Zeugen.«
»Ach, papperlapapp! Kayankaya, du bist wirklich ein solcher Idiot! Wie steh ich denn jetzt da?!«
»Mach’s gut, Octavian, mehr habe ich nicht zu sagen.«
»Warte! Das wird Konsequenzen haben! Man wird dir die Hölle heißmachen, und es würde mich nicht wundern, wenn du deine Lizenz verlierst!«
»Man? Oder du?«
»Du kannst dich jedenfalls darauf verlassen, dass ich für dich keinen Finger mehr krumm mache!«
»Schade, dabei habe ich gerade auf deine Unterstützung gehofft, mein Freund.«
»Arschloch!«
Wir legten auf, und ich rief Scheich Hakim an.
»Ich habe meine Aussage zurückgezogen.«
»Sehr gut, Herr Kayankaya. Alles Weitere wie besprochen.«
»Wie geht es der Geisel?«
»Es fehlt ihr an nichts. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie hören von mir. Gott sei mit Ihnen.«
Zur Abwechslung hoffte ich das auch mal.
Um elf hätte ich mit Rashid auf der Buchmesse sein sollen. Laut Tagesplan las er um elf Uhr dreißig mit Ilona Lohs zum Thema »Verlorenes Zuhause« unter der Überschrift »Süße Heimat, wunde Seele«. Ilona Lohs war in der DDR geboren, und laut einer kurzen Inhaltsangabe auf dem beiliegenden Flyer verarbeitete sie in dem Roman Mondkind, in dem die achtzehnjährige Hauptfigur Jenny Türmerin aus der DDR fliehen will, autobiographische Erlebnisse. Malik Rashid vermisste – ebenfalls laut Flyer – »das alte multikulturelle Marokko, in dem Moslems, Christen und Juden Haus an Haus gelebt hatten«, und beschrieb in seinem
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