Bruderherz. Eine ägyptische Liebe. (German Edition)
Doch eigentlich dachte ich, dass ich träumte.
»Wo wohnst du?«, erkundigte ich mich, nur um etwas zu sagen.
Er zeigte vage in irgendeine Richtung und sagte: »Ich müsste zum Hilton.«
Da er die Stadt überhaupt nicht kannte, musste ich ihn also die etwa drei Kilometer bis zum Nilufer zu Fuß durch den Kairoer Hexenkessel begleiten, denn es war weit und breit kein Taxi zu sehen.
Das Verkehrsaufkommen allein der Sharia Ramesses – Verbindung zwischen Fayum, Gizeh und dem Nildelta – entsprach auch nachts noch ungefähr dem einer deutschen Großstadt im Berufsverkehr. Wir gingen über die sandigen, zerlöcherten Fußwege an Rande des rauschenden Autoverkehrs, durch Müll und Dreck, vorbei an unübersehbaren Menschenmengen, an vor Fahrgästen überquellenden Bussen und einer Blechflut von Autos, die mit Hilfe weniger, altersschwacher Ampeln nur notdürftig in Zaum gehalten wurden. Am Ramsesplatz, vor dem Hauptbahnhof, steigerte sich das Gedränge in unglaublichem Ausmaß.
»Wohin wollen diese vielen Leute eigentlich?«, fragte Ascan.
»Es ist hier immer so. Warum und wohin sie alle reisen, jetzt nachts – ich weiß es nicht. Es gibt einfach unendlich viele Menschen in Kairo. Du siehst ja, wie sie sich auf die Dächer und Trittbretter der überfüllten Busse und Züge zwängen.«
»Wahnsinn! Und dann wieder dieser Gegensatz ...« Ascan blieb stehen und sah zur Ramses-Statue hinüber, die majestätisch-zeitlos-ewig auf der völlig menschenleeren Mittelinsel des Ramsesplatzes stand, umbraust vom nicht abreißenden, mehrspurigen Verkehrsstrom. »Komm, wir sehen uns das an.«
Ehe ich ihn zurückhalten konnte, sprang er hinein in die hupenden, reifenquietschenden Blechmassen rund um die Ramsesinsel. Todesmutig stürzte ich ihm nach. Und wie beim Auszug der Kinder Israels aus Ägypten teilten sich die Fluten wundersam und ließen uns hinüber.
Ramses der Zweite. Dreizehn Meter hoch, von Scheinwerfern goldgelb angestrahlt, ragte er vor dem Nachthimmel auf. Er lächelte erhaben, schön, unbekleidet bis auf den Lendenschurz. Einsam war es auf der Insel inmitten des lärmenden Verkehrs, entrückt von der übrigen Welt. Das Getöse trat in den Hintergrund, während wir über den grünen, jungfräulichen Rasen schritten.
Ich blickte zum unbewegten Steingesicht des Pharaos empor. Vor dreitausendzweihundert Jahren war er ein großer Liebhaber gewesen. Er hatte sechs Gemahlinnen, darunter seine Schwester, unzählige Mätressen und über hundert Kinder gehabt. Aber hatte er erfahren, was Liebe ist?
»Warum bist du hier?«, fragte ich Ascan nun endlich.
Er strich sein schwarzes Haar aus der Stirn. »Immer deine Quizfragen! Ich wollte einfach mal nach Ägypten. Meine Mutter lebte in Kairo, ich bin hier geboren – und war seitdem nie mehr hier.«
»Ascan! Du tauchst aus dem Nichts auf, vollkommen überraschend, und erzählst mir, dass du zufällig gerade jetzt auf einer Bildungsreise bist. Das ist doch Blödsinn. Hat unsere Mutter dich geschickt?«
Er zögerte, sah lange zu dem steinernen Ramses hinauf.
»Sie wünscht sich, dass sich unser Verhältnis normalisiert«, sagte er schließlich. »Ich mag sie, und ich war ihr immer dankbar, dass sie mich großgezogen hat. Ich habe zu ihr gesagt, dass ich es versuchen werde.«
Ich atmete tief durch. »Dazu musstest du doch nicht plötzlich nach Kairo kommen. Wir hatten fast zwei Wochen Zeit dafür, als ich bei dir wohnte.«
»Du willst dich also nicht mit mir versöhnen?«, erkundigte er sich aggressiv.
Ich seufzte. »Ich wünsche mir seit neun Jahren, dass wir uns wieder wirklich vertragen, Ascan. Aber dass du hierher kommst, ist so seltsam … ich kann es nicht begreifen. Woher kennst du überhaupt Karím?«
»Mutter hat mir die Adresse gesagt. Sie meinte, er wüsste, wo du bist.«
»Richtig, ich hatte ihr die Anschrift mal gegeben, für den Notfall.«
Er lachte plötzlich auf. Ich sah wieder seine schönen Zähne und seine süße Zungenspitze. »Der Notfall bin ich. – Hagen, ich … hab gar kein Hotelzimmer. Es gab keines. Mein Gepäck ist noch am Flughafen.«
Es wurde immer verrückter.
»Kairo ist eine harte Nuss. Es gibt nie ein Zimmer hier, wenn man nicht reserviert hat. Aber du kannst meines haben.«
»Und du?«, fragte er sofort.
»Ich schlafe natürlich dicht neben dir – im Ehebett«, erwiderte ich sarkastisch. Ich wollte ihn aus der Reserve locken.
Ascan schwieg. Er sah mich nicht an. Offenbar hatte er sich alles etwas anders vorgestellt. Und er
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