Bruderherz. Eine ägyptische Liebe. (German Edition)
hatte immer noch nicht gesagt, warum er mir tatsächlich nachgereist war. Mein Kopf war nach den Aufregungen der letzten drei Wochen leer. Ich hatte keine Lust mehr, über all das nachzudenken, ich hatte zu oft nachgedacht, ich fühlte mich ausgebrannt.
»Gehen wir«, sagte ich und warf mich wieder ins Autogewühl.
»Wenn die Mücken dich stören, kannst du unter diesem Moskitonetz schlafen«, erklärte ich, nachdem wir im Hotel eingetroffen waren und ich einen Angestellten zum Flughafen geschickt hatte, um Ascans Gepäck holen zu lassen.
Er nickte wie ein Kind, das etwas angestellt hatte und nun nicht mehr weiterwusste.
»Und du … schläfst ohne Netz?«, fragte er tonlos.
Ich sah sein schönes Gesicht, seine tiefen, dunklen Augen, die Herzlippen und die grazile Gestalt. Wunschtraum seit achtundzwanzig Jahren. Jetzt, jetzt endlich hätte er es vielleicht erlaubt, ihn wenigstens auf die Wange zu küssen. Doch die Wange hätte mir nicht genügt.
»Ich kann bei Karím übernachten«, murmelte ich, nahm mein Waschzeug und verließ das Zimmer, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Karím schlief noch nicht. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen und altägyptische Gedichte gelesen, als er mein leises Klopfen hörte. Erstaunt ließ er mich eintreten.
»Was ist los, Hagen? Wo ist er?«, fragte er beunruhigt.
»In meinem Hotelzimmer.«
»Und er wollte nicht, dass du auch …«
»Vermutlich nicht«, sagte ich müde. »Ich habe es nicht versucht. Weißt du, Karím, warum er in Kairo ist?«
»Narima rief mich mittags im Museum an und sagte mir, dass dein Bruder plötzlich da sei, deshalb bin ich zwischendurch schnell zu Hause gewesen und kam so spät ins Restaurant«, erklärte er. »Ascan hat mir nicht gesagt, warum er hier ist. Er ahnt ja nicht, dass ich von euch alles weiß. Aber er wollte dich treffen, und ich musste ihm versprechen, dir auf keinen Fall vorher etwas von seiner Ankunft zu verraten.«
„Karím! Deshalb hast du das gesagt beim Essen!« Ich lachte hart auf. »Aber aus Liebe ist er bestimmt nicht hier.«
»Warum sonst? So überraschend?« Seine Augen blickten zärtlich und gutmütig. Das Traurige war jetzt gut versteckt. »Ich wünsche dir, dass du mit ihm glücklich wirst, Hagen. Euch beiden wünsche ich das.«
Ich seufzte. »Danke, Karím. Aber es ist so, dass unsere Mutter möchte, dass wir uns versöhnen, natürlich ganz artig und moralisch, und er will ihr den Gefallen tun. Ich weiß nur nicht, weshalb er das nicht in Berlin kann, sondern sich Ägypten dafür ausgesucht hat.«
Karím lächelte vieldeutig. »Er ist Halbägypter. Ägypten ist das Land der Geschwisterliebe.«
»Früher mal«, brummte ich. »Heute nicht mehr. Darf ich bei euch im Wohnzimmer schlafen? Wenn es stört, lege ich mich auch draußen auf eine Parkbank.«
Er hob den Blick zur Decke. »Ich schicke meinen besten Freund nicht zum Schlafen auf die Straße! Selbstverständlich kannst du hier bleiben.« Er lächelte wie entschuldigend. »Ich würde dir gerne Gesellschaft leisten, aber das wäre für Narima vielleicht doch ein bisschen zu stark, hier in ihrer Wohnung. Also, schlaf gut!« Er ging hinaus.
Ich ließ meine Jeans an, zog nur das Hemd und die Schuhe aus und legte mich auf das Sofa. Eine Weile lang las ich in dem schmalen Band mit altägyptischen Gedichten, den Karím mir noch ans Herz gelegt hatte.
Einmalig ist mein Bruder,
keinen gibt es, der ihm gleich ist.
Schöner als alle ist er …
Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei: Ascan als kleiner Junge, von mir getröstet, weil er sich wehgetan hatte. Ascan bei einer Mathearbeit, mit einem von mir zugesteckten Spickzettel. Ascan beim Sportunterricht, zierlich und schlank, schon damals schön wie ein Prinz; ich half ihm über ein riesiges 'Pferd' hinüber. Ascan mit mir im See schwimmend, nackt. Ab und zu berührten wir uns leicht unter Wasser. Ascan mit mir bei der Konfirmation, ernst und feierlich in seinem dunklen Anzug; in einer stillen Minute, in der wir allein auf der runden Terrasse standen, sagte er zu mir, dass er immer mit mir zusammenwohnen wollte. Ascan mit siebzehn, schöner als die Sonne; er machte eine Exkursion mit seiner Klasse, und ich konnte nicht richtig essen und schlafen vor Kummer, bis er endlich wieder zu Hause war. Ascan mit neunzehn … er ging nach München, um Werbegrafik zu studieren, und er verabschiedete sich nicht einmal von mir. Immer wieder schickte er Fotos von seinen Freundinnen an Mutter …
Ich wälzte mich auf der
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