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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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der Decke verankert. Als Orson die Tür zuschlug, kam die Frau mühsam auf die Beine, lief schwankend um den Pfosten und versuchte herauszufinden, wo wir standen.
    Sie muss ungefähr fünfundvierzig Jahre alt gewesen sein, ihr blondes Haar zeigte noch Spuren einer Dauerwelle. Sie trug ein rotgraues Bowlinghemd, blaue Hosen, einen einzigen weißen Schuh und war leicht übergewichtig. Ihr Parfüm füllte den Raum und aus einem Schnitt unterhalb der Augenbinde lief Blut an ihrer Nase herunter.
    »Wo sind Sie? Warum tun Sie das?«
    Das passiert alles nicht wirklich. Es ist eine Täuschung. Wir spielen ein Spiel. Das ist kein menschliches Wesen.
    »Setz dich da hin, Andy!«, befahl Orson und zeigte in den vorderen Teil der Scheune. Ich ging an Metallregalen voller Werkzeug vorbei und setzte mich in der Nähe der Flügeltür auf einen grünen Gartenstuhl. Ein weißer Schuh lag neben der Tür, und ich überlegte, warum ihn die Frau wohl weggetreten hatte. Sie schaute in meine Richtung, Tränen rannen ihr die Wangen herab. Orson kam zu mir herüber und stellte sich neben mich. Er bückte sich und untersuchte seine glänzenden Stiefelspitzen. Plötzlich umspannte etwas mein Fußgelenk.
    »Tut mir Leid, aber ich traue dir noch nicht«, sagte er und legte ein Fußeisen, das unter dem Gartenstuhl im Boden verankert war, um meinen Knöchel.
    Orson ging auf die Frau zu und schob meine Waffe in eine tiefe Tasche seines Arbeitsoveralls.
    »Warum tun Sie mir das an?«, fragte sie erneut. Orson streckte seinen Arm aus und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Als sie zurückwich, folgte er ihr, wobei sich die Kette langsam um den Pfosten wickelte.
    »Wie heißt du?«, fragte er freundlich.
    »Sh-Shirley«, sagte sie zitternd.
    »Shirley – und weiter?«
    »Tanner.« Orson ging durch den Raum, holte zwei Hocker, die verkehrt herum auf dem Boden gestanden hatten, und stellte sie nebeneinander in Reichweite der Kette auf.
    »Bitte«, sagte er und fasste sie oberhalb des Ellbogens am Arm, »setz dich.« Als sie sich gegenübersaßen, streichelte Orson ihr Gesicht. Ihr ganzer Körper zitterte, als leide sie an Unterkühlung. »Shirley, bitte beruhige dich. Ich weiß, dass du Angst hast, aber du musst aufhören zu weinen.«
    »Ich will nach Hause«, sagte sie mit unsicherer, kindlicher Stimme. »Ich will…«
    »Du kannst nach Hause gehen, Shirley«, erklärte Orson. »Ich will mich nur mit dir unterhalten. Das ist alles. Lass mich als Vorrede zu dem, was wir tun werden, ein paar Fragen an dich stellen. Weißt du, was eine Vorrede ist, Shirley?«
    »Ja.«
    »Dies ist lediglich eine Vermutung, aber wenn ich dich so anschaue, habe ich nicht das Gefühl, dass du zu den Menschen gehörst, die viel Zeit mit Büchern zubringen. Habe ich Recht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Was hast du als Letztes gelesen?«
    »Hm… Himmlischer Kuss.«
    »Ist das ein Liebesroman?«, fragte er, und sie nickte. »Oh, tut mir Leid, aber das zählt nicht. Siehst du, Liebesromane sind Mist. Vermutlich könntest sogar du einen schreiben. Zufällig aufs College gegangen?«
    »Nein.«
    »Highschool beendet?«
    »Ja.«
    »Puh! Hast mir ja kurz Angst gemacht, Shirley.«
    »Bringen Sie mich zurück«, bettelte sie. »Ich will zu meinem Mann.«
    »Hör auf zu jammern«, sagte er, und erneut liefen ihr Tränen über die Wangen. Diesmal wischte Orson sie nicht ab. »Mein Bruder ist heute Abend hier«, sagte er stattdessen, »und das ist eine glückliche Fügung für dich. Er wird dir fünf Fragen aus irgendwelchen Wissensgebieten stellen: Philosophie, Geschichte, Literatur, Geografie – querbeet. Du musst mindestens drei Fragen korrekt beantworten. Wenn du das schaffst, bringe ich dich zurück zur Bowlingbahn. Deswegen die Augenbinde. Darf dir doch nicht mein Gesicht zeigen, wenn ich dich wieder gehen lasse, oder siehst du mich etwa?« Schüchtern schüttelte sie den Kopf. Orsons Stimme war nur noch ein Flüstern, als er sich zu ihr hinüberlehnte und direkt in ihr Ohr sprach. Es war gerade so laut, dass ich ihn auch noch verstehen konnte. »Aber wenn du weniger als drei Fragen richtig beantwortest, schneide ich dir das Herz raus.«
    Shirley stöhnte. Unbeholfen kletterte sie vom Hocker und versuchte davonzulaufen, aber die Kette riss sie zu Boden.
    »Steh auf!«, schrie Orson und erhob sich ebenfalls von seinem Hocker. »Wenn du in fünf Sekunden nicht wieder auf deinem Hocker sitzt, hast du den Test nicht bestanden.« Shirley stand sofort wieder auf und Orson half

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