Bruderherz
Allerdings glaube ich, dass er nur häppchenweise Trost findet, zum Beispiel bei dem grausamen Teil in »Der Fürst« oder bei dem psychotischen Richter Holden in »Die Abendröte im Westen«.
In der Ferne höre ich ein Auto. Es ist das erste Mal, dass er mich allein gelassen hat, und das macht mir Angst. Vielleicht hat er ja nur Lebensmittel eingekauft. Gute Nacht.
Ich ging vom Bett zur Kommode und legte Stift und Papier in die mittlere Schublade. Der Versuch, mein Tagebuch vor Orson zu verstecken, wäre sinnlos. Abgesehen davon hat er bisher gewisse Anstandsregeln in Bezug auf mein Schreiben bewiesen. Zumindest hatte ich nicht das Gefühl, dass er mein Tagebuch bereits gelesen hatte. Er respektierte, was er selbst als innere Bedürfnisse bezeichnete, und das war in meinem Fall das Schreiben.
Ich kroch zurück ins Bett und löschte die Öllaterne auf dem Nachttisch, die ich seit einigen Tagen als Lichtquelle benutzte. Das Zuschlagen der Autotüre hallte durch das offene Fenster. Ich wollte nicht mehr wach sein, wenn er hereinkam.
Er flüsterte meinen Namen: »Andy. Andy. Andrew Thomas.« Ich öffnete die Augen, ohne jedoch irgendetwas zu sehen. Das halblaute Flüstern hörte nicht auf. »Hallo, mein Kumpel. Hab ‘ne Überraschung für dich. Genauer gesagt für uns beide.« Der blendende Strahl einer Taschenlampe erleuchtete Orsons Gesicht – ein Grinsen zwischen blutbeschmierten Wangen. Er knipste die Lampe über dem Bett an. Meine Augen schmerzten.
»Lass uns gehen. Du verschwendest Mondlicht.« Er legte die Taschenlampe auf die Kommode und zog mir die Decke weg. Durch das Fenster konnte ich den Mond hoch am Himmel stehen sehen. Immer noch erschöpft, hatte ich nicht das Gefühl, lange geschlafen zu haben.
Orson warf mir eine Jeans und ein blaues T-Shirt aus meinem Seesack zu, der offen in einer Ecke lag. Er wirkte ungeduldig, er ähnelte einem Kind in einem Vergnügungspark, während er in seinem blauen Overall und den Stahlspitzenstiefeln im Zimmer auf und ab ging.
Der blasse Mond tauchte alles in ein bläuliches, taghelles Licht – den Beifuß, die Felsen, sogar Orson. Mein Atem dampfte in der kalten Nachtluft. Wir gingen auf die Scheune zu, und beim Näherkommen bemerkte ich, dass der Buick davor abgestellt war. Der Kofferraum zeigte in unsere Richtung, der Kühler auf die Flügeltür. Das Nummernschild war abmontiert.
Irgendetwas schlug von innen gegen das Scheunentor. Dann folgte ein kurzer Klageruf: »HILFE!« Als ich stehen blieb, drehte sich Orson zu mir um.
»Sag mir, was wir hier machen«, sagte ich.
»Du kommst mit mir in diese Scheune.«
»Wer ist da drin?«
»Andy…«
»Nein. Wer ist in…« Ich starrte auf den blanken Stahllauf meines .357er Revolvers.
»Geh du voran«, sagte er.
Mit der Waffe im Rücken ging ich die Seite des Gebäudes entlang. Die Scheune war größer, als ich bislang angenommen hatte, die Seiten waren gut zwölf Meter lang, das Wellblechdach mit spitzem Winkel, der, so vermutete ich, verhindern sollte, dass das Dach im Winter von Schneemassen eingedrückt wurde, wenn wir tatsächlich so hoch im Norden waren. Auf der Rückseite der Scheune ließ mich Orson vor der Hintertür anhalten. Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche, und während er ihn ins Schloss steckte, drehte er sich zu mir um und grinste.
»Du magst doch Buttermilch, oder nicht?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was das jetzt für eine Rolle spielen konnte.
»Hast du sie immer schon gemocht?«
»Nein.«
»Das stimmt. Du hast sie getrunken, weil Vater sie getrunken hat, doch irgendwann fandest du sie richtig lecker. Nun, für mich schmeckt sie beschissen, aber du hast dich an den Geschmack von Buttermilch gewöhnt. So was Ähnliches wird auch hier passieren. Zunächst wirst du’s hassen. Du wirst mich noch mehr hassen als jetzt. Aber es wird dich verändern. Ich verspreche dir, auch du wirst Geschmack daran finden.« Er schloss die Tür auf und steckte den Schlüssel wieder in seine Tasche. »Kein Wort, bis ich es dir erlaube.« Lächelnd bedeutete er mir, als Erster einzutreten. »Unmenschliche Grausamkeit«, flüsterte er, während ich die Tür öffnete und er mir in die Scheune folgte.
In der Mitte der Scheune lag eine Frau mit verbundenen Augen und Handschellen auf dem Boden, um den Hals ein braunes Lederhalsband, daran eine anderthalb Meter lange Kette, die sie an einen Eisenpfosten fesselte. Der Pfosten war im Boden einbetoniert und im Dachgebälk
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