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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Mahagonifarbe. Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl und zog sich einen Quilt über ihre mageren Beine, die wurmartigen Venen waren unter der dicken Strumpfhose verborgen.
    »Warum hast du dich vier Monate lang nicht blicken lassen?«, fragte sie.
    »Ich hatte zu tun, Mutter«, erklärte ich und stellte das Teeglas auf dem Beistelltischchen vor dem Sofa ab. »Ich hatte eine Lesereise und vieles andere um die Ohren, deshalb bin ich auch noch gar nicht so lange wieder in North Carolina.«
    »Nun, es tut schon weh, wenn sich der eigene Sohn nicht einmal die Zeit nimmt, seine Mutter zu besuchen, sondern immer nur wichtigere Termine hat.«
    »Es tut mir Leid«, meinte ich. »Ich bin beschämt.«
    »Du solltest wirklich etwas aufmerksamer sein.«
    »Das werde ich. Tut mir Leid.«
    »Hör auf damit«, erwiderte sie kurz. »Ich verzeihe dir.« Sie drehte sich wieder zum Fernseher um und meinte: »Ich habe dein Buch gekauft.«
    »Du brauchst es doch nicht zu kaufen, Mutter. Ich habe noch dreißig Exemplare zu Hause. Ich hätte dir eins mitbringen können.«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Hast du es denn gelesen?«
    Sie runzelte die Stirn und ich kannte bereits ihre Antwort. »Ich möchte deine Gefühle nicht verletzen«, sagte sie. »Aber es liest sich genau wie die anderen. Ich habe noch nicht einmal das erste Kapitel zu Ende gelesen, bevor ich es weggelegt habe. Du weißt, ich habe etwas gegen Gottlosigkeit. Und dieser Mann war einfach schrecklich. Ich lese nichts über jemanden, der andere Menschen mit einem Schraubenzieher ermordet. Ich weiß nicht, wie du so etwas schreiben kannst. Die Leute denken vermutlich, ich hätte dich misshandelt.«
    »Mutter, ich…«
    »Ich weiß, dass du das schreibst, was sich verkauft, aber das heißt noch nicht, dass ich es mag. Ich wünschte nur, du würdest zur Abwechslung mal etwas Nettes schreiben.«
    »Was denn? Was soll ich denn deiner Meinung nach schreiben?«
    »Eine Liebesgeschichte, Andrew. Irgendetwas mit einem Happyend. Die Leute lesen schließlich auch Liebesgeschichten, wie du weißt.« Ich lachte laut und hob das Glas.
    »Du glaubst also, ich sollte ins romantische Fach überwechseln? Meine Fans wären begeistert, das kann ich dir sagen.«
    »Jetzt bist du gemein«, sagte sie, während ich wieder einen Schluck trank. »Du solltest dich was schämen. Sich über die eigene Mutter lustig zu machen.«
    »Ich mache mich nicht über dich lustig, Mutter. Ich finde, du bist urkomisch.«
    Erneut runzelte sie die Stirn und schaute wieder auf den Fernseher. Unter ihrer harten Schale aus Eigenwillen und Reizbarkeit war meine Mutter überraschend sensibel.
    »Warst du schon an Vaters Grab?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
    »Nein. Ich wollte mit dir zusammen hingehen.«
    »Heute Morgen lagen an seinem Grabstein Blumen. Ein wunderschönes Gesteck. Sie sahen frisch aus. Bist du sicher, dass du…«
    »Mutter, ich denke doch, ich würde mich daran erinnern, wenn ich heute Morgen Blumen auf Vaters Grab gelegt hätte.«
    Ihr Kurzzeitgedächtnis ließ ganz schön nach. Vermutlich hatte sie die Blumen gestern selbst hingetragen.
    »Nun, ich war heute Morgen dort«, erklärte sie. »Bevor es sich bewölkt hat. Habe etwa eine Stunde dort gesessen und mit ihm geredet. Er hat eine schöne Ruhestätte, dort unter der Magnolie.«
    »Ja, das hat er.«
    Ich starrte auf den olivgrünen Plüschteppich unter meinen Füßen, den schiefen Esstisch neben der Küche und auf die erste Tür im Flur, die hinab in den Keller führte, und spürte, wie wir vier uns durch diesen toten Raum bewegten, diesen altmodischen Spuk – spürte meinen Vater und Orson genauso intensiv wie meine Mutter, die leibhaftig vor mir saß. Erstaunlicherweise riss mich der Geruch verbrannten Toastbrotes aus der Erstarrung. Meine Mutter liebte verbranntes Brot, und obwohl der Geruch ihres angesengten Frühstücks bereits ein paar Stunden alt war, verwandelte er drei unerbittliche Sekunden lang dieses verfallene Haus in meine Heimat und mich wieder in ihren kleinen Jungen.
    »Mutter«, fing ich meinen Satz an und hätte beinah seinen Namen ausgesprochen. Orson lag mir auf der Zunge. Ich wollte, dass sie mich daran erinnerte, was für ein sorgloses Leben wir als Kinder geführt hatten, die miteinander spielten.
    Sie schaute von ihrem stummen Fernseher auf.
    Doch ich bat sie nicht darum. Sie hatte ihn aus dem Gedächtnis gestrichen. Als ich einmal den Fehler begangen hatte, von ihm zu sprechen, war sie sofort verstummt. Es hatte sie

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