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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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hatte ich versucht, ihr ein neues Haus schmackhaft zu machen, doch sie hatte sich geweigert, umzuziehen. Ich durfte weder ihre Rechnungen bezahlen noch ihr ein Auto kaufen oder sie gar auf eine Kreuzfahrt schicken. Ich war nicht sicher, ob es an ihrem Stolz lag oder daran, dass sie einfach nicht wusste, wie viel Geld ich verdiente, doch es ärgerte mich maßlos. Sie bestand darauf, sich allein mit dem Unterhaltszuschuss, ihrer Lehrerinnenrente und Vaters geringer und mittlerweile beinah aufgebrauchter Lebensversicherung durchzuschlagen.
    Ich stieg die Stufen zur Veranda empor und klingelte. Von drinnen ertönten durch eine gesprungene Fensterscheibe Fetzen von »Der Preis ist heiß« und gleichzeitig Schritte, die sich der Haustür näherten. Ich hörte, wie meine Mutter einen Hocker über den Boden schleifte, um den Türspion zu erreichen.
    »Ich bin’s, Mutter!«, rief ich durch die Tür.
    »Andrew, bist du es?«
    »Ja, Mutter!.« Drei Riegel wurden geöffnet und die Tür ging auf.
    »Liebling!« Ihr Gesicht erstrahlte – eine Wolke gab die Sonne frei. »Komm rein«, sagte sie lächelnd. »Gib deiner Mutter einen dicken Kuss.« Ich trat ein und umarmte sie. Gerade fünfundsechzig, kam sie mir jedes Mal kleiner vor, wenn ich sie besuchte. Ihr Haar wurde langsam weiß, aber sie trug es immer noch lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden wie früher. Das grüne Kleid mit den weißen Blumen war ihr inzwischen viel zu groß und wirkte auf ihrem zierlichen Körper wie eine aus der Mode gekommene Tapete.
    »Du siehst gut aus«, sagte sie und inspizierte meine Hüften. »Ich sehe, du hast diesen Rettungsring abgelegt.« Lächelnd zwickte sie mich in den Bauch. Ihre größte Sorge war, ich könnte plötzlich dreihundert Kilo zunehmen und Gefangener in meinem eigenen Haus werden. Es war kaum auszuhalten bei ihr, wenn mein Körper auch nur die geringsten Zeichen von Übergewicht erkennen ließ. »Ich hab dir doch gesagt, dass du diese Speckpölsterchen leicht wieder loswirst. Sie sind wirklich nicht attraktiv, weißt du. Aber das kommt davon, wenn du immerzu drinnen hockst und schreibst.«
    »Der Garten sieht gar nicht gut aus, Mutter«, erklärte ich, ging ins Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa. Sie ging zum Fernseher und schaltete den Ton aus. »Kommt der Gärtner nicht mehr?«
    »Ich hab ihn rausgeschmissen«, sagte sie und stellte sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor den Bildschirm. »Er hat zu viel verlangt.«
    »Du musstest ihn doch nicht bezahlen.«
    »Ich brauche deine Hilfe nicht«, meinte sie. »Und ich werde auch nicht mit dir darüber diskutieren. Ich habe dir einen Scheck ausgestellt über die Summe, die du mir gegeben hast. Erinnere mich daran, ihn dir mitzugeben, bevor du gehst.«
    »Ich werde ihn nicht annehmen.«
    »Dann ist es eben zum Fenster rausgeworfenes Geld.«
    »Aber der Garten sieht fürchterlich aus. Er müsste dringend…«
    »Das Gras wird eh braun und fault weg. Kein Grund, jetzt so ein Getue deswegen zu machen.«
    Ich seufzte und lehnte mich zurück gegen die staubige, durchsessene Sofalehne, während meine Mutter in die Küche verschwand. Das Haus roch muffig, nach altem Holz und angelaufenem Silber. Über dem gemauerten Kamin hing ein Familienfoto, das in dem Sommer nach Orsons und meinem Schulabschluss aufgenommen worden war. Das Foto war sechzehn Jahre alt und das sah man auch. Der Hintergrund war rötlich verfärbt und unsere Gesichter wirkten eher rosa als fleischfarben.
    Ich erinnerte mich sehr genau an jenen Tag. Orson und ich hatten uns darüber gestritten, wer von uns Vaters braunen Anzug tragen durfte. Wir beide hatten uns so darauf fixiert, dass unsere Mutter eine Münze warf. Ich gewann. Orson war so wütend, dass er sich weigerte, sich fotografieren zu lassen, also gingen Mutter und ich alleine ins Fotoatelier. Ich trug den braunen Anzug meines Vaters und sie ein lila Kleid, das auf dem verblichenen Foto nun schwarz wirkte. Es war unheimlich, meine Mutter und mich anzuschauen, wie wir dort allein vor dem roten Hintergrund standen – eine halbe Familie. Sechzehn Jahre später hat sich nichts geändert.
    Sie kam aus der Küche zurück ins Wohnzimmer und trug ein Glas mit süßem Tee.
    »Hier, für dich, mein Liebling«, sagte sie und reichte mir das kühle, klebrige Glas. Ich trank einen Schluck und genoss ihre Kunst, den besten Tee aufzubrühen, den ich je gekostet hatte. Er war genau richtig gesüßt, nicht bitter, nicht zu schwach und von transparenter

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