Bruderherz
zutiefst verletzt, dass er weggegangen war, dass Orson vor dreizehn Jahren sämtliche Familienbande zerschnitten hatte. Anfänglich hatte sie diesen Schmerz bekämpft, indem sie geleugnet hatte, dass er je ihr Sohn gewesen sei. Inzwischen, Jahre später, leugnete sie, dass er je geboren worden war.
»Ach, nichts«, sagte ich, und sie wandte sich wieder der Quizshow zu. Also suchte ich selbst nach einer Erinnerung. Mit elf sind Orson und ich alleine im Wald. Es ist Sommer und die Bäume sind dicht belaubt. Wir finden ein zerschlissenes, feuchtes und verschimmeltes Zelt aus Segeltuch und sind begeistert. Wir kehren die Blätter nach draußen, machen das Zelt zu unserer geheimen Trutzburg und spielen in jenem Sommer jeden Tag darin, sogar bei Regen. Da wir nicht einmal den Nachbarskindern davon erzählen, gehört es uns ganz allein und wir schleichen uns mehrere Male nachts aus dem Haus, kampieren dort mit unseren Taschenlampen und Schlafsäcken und jagen bis zum Morgengrauen Glühwürmchen. Dann rennen wir nach Hause und klettern in unsere Betten, bevor Mutter und Vater aufwachen. Sie erwischen uns nie und zum Ende des Sommers besitzen wir ein ganzes Marmeladenglas voller Gefangener – eine luziferinische Nachtbeleuchtung auf dem Spielzeugregal zwischen unseren Betten.
Mutter und ich schauten bis Mittag den habgierigen Kandidaten zu. Ich behielt diese Erinnerung für mich.
»Andrew«, sagte sie, als die Quizshow zu Ende war, »ist es immer noch kalt draußen?«
»Es ist kühl«, erwiderte ich, »und etwas windig.«
»Würdest du ein Stück mit mir spazieren gehen? Das Laub ist wunderschön.«
»Gerne.«
Sie ging ins Schlafzimmer, um sich einen Mantel zu holen, und ich stand auf und ging durch das Esszimmer zur Hintertür. Ich öffnete sie und trat auf die hintere Veranda. Da die grüne Farbe überall abblätterte, waren die Bohlen rutschig.
Mein Blick wanderte über den zugewachsenen Garten und die kaputte Schaukel, die wir einst mit unserem Vater gebaut hatten. Er wäre nicht stolz darauf, wie ich mich um seine Frau kümmerte. Aber sie ist stur wie ein Esel und das wusstest du. Wusstest es besser als jeder andere. Ich lehnte mich gegen die Brüstung und blickte zu dem knapp dreißig Meter entfernten Wald hinüber, der dort begann, wo der Rasen aufhörte.
Irgendwo in meinem Innern fühlte ich ein Zwicken. Es war, als sähe ich die Welt wie das Negativ eines Fotos – schwarz und grau, zwei Jungen, die durch den Wald auf etwas zugingen, was ich nicht sehen konnte. Ein flüchtiges Bild tauchte vor meinen Augen auf – eine glühende Zigarette in einem Tunnel. Ich spürte eine Gegenwart in diesem Wald, in meinem Kopf, die mich aus der Fassung brachte.
Ich wurde den Gedanken nicht los, etwas vergessen zu haben.
Kapitel 17
Vor Einbruch der Dunkelheit verließ ich meine Mutter und dachte die vierzig Meilen zwischen Winston-Salem und meinem Haus am See in der Nähe von Davidson an Karen. Normalerweise verbannte ich jeglichen Gedanken an sie aus meinem Kopf, kaum dass mich irgendetwas an sie erinnerte, doch an jenem Abend erlaubte ich ihr zu bleiben und stellte mir beim Anblick des vertrauten Straßenverlaufs zwischen Wäldern und Weiden vor, sie säße neben mir im Jeep.
Wir fahren einvernehmlich schweigend nach Hause und in einer Stunde gehen wir gemeinsam durch meine Haustür. Du wirfst deinen Mantel über den Klavierschemel und ich gehe schnurstracks in die Küche, um eine Flasche Wein zu holen, auch wenn ich deinem Blick entnehme, dass du heute Abend vielleicht mehr an etwas anderem interessiert bist als an Wein. Daher gehen wir ohne Musik, Kerzen oder uns frisch zu machen direkt nach oben in mein Schlafzimmer, haben Sex miteinander, schlafen ein, wachen wieder auf, lieben uns erneut und schlafen wieder ein.
Ich wache in dieser Nacht noch einmal auf, spüre deinen Atem neben mir und lächle bei dem Gedanken, uns ein gemeinsames Frühstück zu bereiten. Du bist morgens im Bademantel beim Kaffee eine wunderbare Gesellschaft, wenn der See in den ersten Sonnenstrahlen glitzert…
Ich redete laut mit einem leeren Sitz und Davidson war immer noch fünfzehn Meilen entfernt.
Das Letzte, was ich von Karen gehört hatte, war, dass sie als Lektorin für einen kleinen Verlag in Boston arbeitete und mit einem Patentanwalt zusammenlebte. Weihnachten würden sie auf den Bermudas heiraten. Versuch es mal so, Andy: Gegen halb neun wirst du deine Haustür aufschließen, dein Haus betreten und direkt nach oben ins
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